Depesche aus dem Jenseits
zum Mars, sogar zur Venus, und ein freier Bürger darf nicht einmal mit einer Lokomotive nach Mailand fahren. Das ist absurd, verrückt...sozusagen!«
»Wie fühlen Sie sich?«
»Nicht schlecht. Ich bin müde, das ist alles. Dieser Streit mit meiner Frau... schrecklich! Heute morgen, irgendwo... ich weiß nicht mehr genau, wo... verstehen Sie? Auf einmal habe ich rot gesehen! Ich bin halb verrückt geworden!«
»Passiert Ihnen so etwas öfters?«
»Ich glaube nicht, ich kann nicht mehr klar denken...«
»Erinnern Sie sich an Ihren Namen?«
»Nein, eben nicht! Das macht mich wahnsinnig. Einzelheiten, Kleinigkeiten habe ich vergessen! Aber Einzelheiten sind unwichtig, nicht wahr? Sie hindern den Menschen nur daran, das Ganze, das Wesentliche in sich aufzunehmen, finden Sie nicht auch?«
Sein Name war Giovanni R. Er war 47 Jahre alt, verheiratet, Familienvater und tatsächlich Schiffbauingenieur. Bis zu diesem Tag hatte er ein völlig normales Leben geführt — gesund, glücklich, erfolgreich im Beruf. Am Morgen hatte er stolz seiner Frau erklärt:
»Ich bin nach Mailand versetzt worden! Zum Hauptbüro, zur Direktion! In zwei Monaten können wir umziehen, was sagst Du nun?«
Zuerst sagte sie nichts.
Er freute sich auf den neuen, wichtigen Posten, er freute sich auf Mailand! Nicht mehr zwischen Genua und Asti hin und her pendeln zu müssen! Diese langweiligen Fahrten im Zug, vorbei!
Aber seine Frau wollte das schöne Haus in Asti nicht verlassen. Und zum ersten Mal, in 15 Jahren Ehe, hatten sie sich schrecklich gestritten.
Dann auf einmal, aus heiterem Himmel, hatte er gesagt: »Gut, wie du willst! Ich fahre eben allein nach Mailand! Aber nicht mit dem Zug. Ich kann Züge nicht mehr sehen. Wenn es sein muß, dann fahre ich mit einer Lokomotive! Es ist unerträglich für einen Schiffbauingenieur, dauernd in Zügen herumzusitzen!«
Und daraufhin knallte er die Tür zu.
Ein ganz banaler Ehestreit, eine Bagatelle sozusagen.
Das verfluchte Schloß
Es war einmal eine Dame — im Jahre 1924 — für ein Märchen ist das gar nicht so lange her. Und wie in allen Märchen war die Dame jung, schön, blond und geheimnisvoll. Schön wie eine Knospe, jung wie ein Frühlingstag, blond wie ein Kornfeld in der Mittagssonne und geheimnisvoll wie eine Elfe in der Abenddämmerung.
Alle Bauern in der Gegend rühmten ihre Schönheit und ihre Liebenswürdigkeit, doch die Dame zeigte sich fast nie in der Öffentlichkeit — ein eifersüchtiger Gatte wachte argwöhnisch über sie und erlaubte ihr kaum, den Landsitz zu verlassen.
An einem Gewitterabend starb sie — so leise, wie sie gelebt hatte. In diesen Zeiten, noch dazu im mystischen Herzen der Bretagne, war das genug, um eine Legende entstehen zu lassen. Es mußte allerdings sehr viel mehr geschehen, um die unheimliche Geschichte des verfluchten Schlosses bis in unsere Tage hinein lebendig zu erhalten!
Es geschah also in Frankreich vor einem halben Jahrhundert. Heute ist das Schloß nur noch eine malerische Ruine — einsam in der von dichten Wäldern durchzogenen Landschaft, verschleiert von den Nebelschwaden, die hier fast das ganze Jahr hindurch über den stillen Flüssen schweben. Eine Ruine — ein Haufen alter Steine, die aus der Vergangenheit auftauchen und von früher erzählen, gespenstisch, wie es sich in keltischen Landen gehört.
Zwischen dem Schloß und dem drei Kilometer entfernten Dorf steht nur ein kleiner von Efeu überwucherter Turm — man erkennt ihn kaum inmitten der Bäume. Darin wohnt ein einzelner Mann — der Wildhüter des Schlosses.
In einem verdunkelten Schlafgemach des Herrenhauses schweigt Monsieur de B. — der eifersüchtige Gatte. Neben ihm — zwei Diener. Auch sie schweigen. Sie sind so alt, so still, daß man sie für verstaubte Ölgemälde der Ahnengalerie halten könnte. Sie gehören zum Mobiliar, genauso wie die Ritterrüstungen in den finsteren Ecken, Treppen und Gängen.
Auf dem Bett mit dem großen Baldachin liegt die tote Dame, die jetzt gleich durch den Park in die Familiengruft getragen wird, wo sie bei den Vorfahren des ländlichen Adelsgeschlechtes ihre letzte Ruhe finden soll.
Der Arzt war nur kurz da und hatte lediglich den Tod festgestellt. Damit hatte er seine Pflicht getan, und man gab ihm zu verstehen, er möge sich nun verabschieden. Auch der Dorfpfarrer wurde gerufen, doch er kam nicht. Madame de B. war nicht katholisch, und die gestrenge Kirche erlaubte ihm nicht, der Verstorbenen die letzte Ölung
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