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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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befinden sich genug Lokomotiven, aber an den meisten arbeiten Eisenbahner. Sie prüfen dies und jenes, kriechen unter die Maschinen, klopfen mal hier, mal da, oder sitzen einfach in den Führerständen und warten, bis die Waggons abgehängt werden. Leere Züge stehen auch herum — unbewacht und mit Lokomotiven.
    »Ich kann doch nicht ein Dutzend Eisenbahnwagen bis nach Mailand mitschleppen, was soll ich damit? Herrgott nochmal, es muß doch irgendwo eine abgestellte Lok geben!«
    Der Mann geht ganz ungeniert auf den Gleisen spazieren, springt zwischen den stehenden Zügen hin und her, klettert auf die Kupplungen, steigt in die Loks ein und wieder heraus — so, als hätte er sein ganzes Leben lang bei der Eisenbahn gearbeitet. Er bewegt sich so selbstverständlich, daß niemand auf die Idee kommen könnte, ihn zu fragen, was er hier eigentlich sucht! Eine Lokomotive... Und damit will er unbedingt allein nach Mailand fahren!
    Endlich! Da steht eine! Zwei Männer arbeiten zwar noch an dem Zug, den sie gerade abgekoppelt haben, aber jetzt ist es ein Kinderspiel, an den beiden vorbeizukommen und unbemerkt in die Lok zu klettern. Geschafft! Im Handumdrehen hat er alles im Griff — und schon nach zwei Minuten setzt sich die schwere Lokomotive keuchend in Bewegung.
    Die Eisenbahner springen mit einem Satz vom Gleis: »Was ist los?! Wird die Lok zum Rangierbahnhof gebracht? Die hätten uns ja auch Bescheid sagen können! Das ist ja lebensgefährlich!«
    »Quatsch! Sie fährt los! Komm, schnell, die kriegen wir noch!«
    Eine Lokomotive ist kein Formel-1-Rennwagen, und es dauert eine ganze Weile bis sie richtig in Fahrt kommt. Während der ältere der beiden Eisenbahner zum Bahnhofsvorsteherbüro läuft, rennt der jüngere hinter der Lok her und erreicht sie auch bald. Oben, aus der kleinen Luke im Führerstand, begrüßt ihn der Lokführer freundlich:
    »Sparen Sie Ihre Kräfte, junger Mann! Oder wollen Sie uns etwa bis Mailand begleiten?«
    »Was tun Sie denn da! Sind Sie Lokführer?«
    »Nein, warum? Ich bin Schiffbauingenieur!«
    »Halten Sie an, verdammt nochmal, halten Sie an! Was machen Sie denn?«
    »Was ich mache? Das sehen Sie doch: Ich fahre!« Allmählich rollt das Monstrum schneller und das Gerassel und Gedröhne wird immer lauter. Beide Männer müssen sich die Lunge aus dem Leib schreien: »Langsamer, Mann! So kann man nicht miteinander reden!«
    »Ich habe Ihnen auch nichts zu sagen, ich habe es eilig!«
    »Sie sind verrückt! Halten Sie an, bevor es zu spät ist!«
    »Wer anhält, kommt immer zu spät! Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin kein Dieb. Sie kriegen Ihre Lok in Mailand wieder. Oder glauben Sie vielleicht, ich stelle sie in meiner Garage ab!«
    »Bitte! Lassen Sie mich wenigstens mitfahren!«
    »Ich reise lieber allein! Wer ein Schiff bauen kann, kann auch eine Lokomotive fahren. Ich kenne mich aus. In Mailand werde ich eine Fahrkarte lösen und die Lok höchstpersönlich abgeben. Es ist alles in Ordnung. Es ist nur vorübergehend, sozusagen...«
    Vergeblich versucht der erschöpfte Eisenbahner auf die Lok zu springen, keine Chance. Sie rollt und rollt immer schneller Richtung Mailand.
     
    Alle Bahnstrecken zwischen Allessandria und Mailand müssen sofort gesperrt werden und bald schrillt auf jedem Bahnhof das Telefon:
    »Ein Verrückter hat eine Lok gestohlen! Braust damit allein nach Mailand!«
    »Die Lok rast durch die Bahnhöfe, mit Volldampf!«
    »Alle Weichen bis Mailand für die Geisterlok stellen!«
    »Alle Züge, stop!«
    »Mailänder Hauptbahnhof: Alarmstufe! Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen, Hubschrauber!«
    »Hauptbahnhof evakuieren!«
    »Mailand! Stellwerk eins! Sie allein können die Katastrophe noch verhindern!«
    Etwa eine Stunde später, nach einer wahnwitzigen Fahrt, ist der Schiffbauingenieur mit seiner Lok fast am Ziel. Als er am Stellwerk zwei vorbeirast, drosselt er die Geschwindigkeit, bremst regelmäßig bis zum Stellwerk eins, rollt langsam vorbei und schleicht in den Bahnhof hinein. Die Lok hält — wie jede andere Lokomotive auch — direkt vor dem Prellbock, auf Gleis vierzehn.
    Wozu die ganze Aufregung?
    Der Mann wurde sofort verhaftet und ins Polizeipräsidium geschleppt, wo ein Krankenwagen auf ihn wartete. Erstaunt über diesen ungewöhnlichen Empfang, voll gekränkter Würde, beschwerte er sich bei dem Psychiater: »Herr Doktor, es ist erniedrigend, so behandelt zu werden! Die Amerikaner sind schon längst auf dem Mond gelandet, die Russen schicken Raumsonden

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