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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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Waisenhaus auf Kosten der Bürger — sie mag froh sein, nun ihre Dankesschuld ab tragen zu können! Waisen dürfen nicht wählerisch sein — 1925 schon gar nicht. Und sie haben auch keine Furcht vor finsteren Schlössern.
    Als Emilie wie ein geprügelter Hund mit ihrem kleinen Koffer draußen vor Monsieur de B. steht, ist sie 22 Jahre alt. Das hohe, verrostete Gittertor quietscht, die neue Haushilfe huscht hinein und verschwindet sofort in dem unheimlichen Gemäuer.
    Im Dorf herrscht höchste Aufregung, und die Leute zerreißen sich wieder die Mäuler!
    Wie konnte der Pfarrer nur das arme Mädchen dorthin schicken? Dort, wo sie ganz allein unter einem Dach mit einem Witwer leben muß, mit einem Mann, der seine Frau auf dem Gewissen hat!
    Der gutmütige Pfarrer bemüht sich, seine Gemeinde zu besänftigen und beschwört sie, endlich diese bösen Beschuldigungen ein für allemal bleiben zu lassen — doch es hilft nichts!
    Und das Volk hatte recht! Ein Jahr später triumphieren die bösen Zungen: Der Bürgermeister traut Monsieur de B. und Emilie. Der Amtsschreiber und der Wildhüter dienen als Trauzeugen — sonst ist niemand geladen. Der Ehemann ist 47 Jahre alt, seine Frau erst 23.
     
    Kurz nach ihrem 24. Geburtstag, an einem Gewitterabend, stirbt Emilie, die zweite Schloßherrin.
    Dieses Mal durfte der Pfarrer die Sterbesakramente reichen. Ansonsten läuft alles genauso wie beim ersten Todesfall: Der Schreiner liefert den kostbaren Sarg aus Eichenholz, legt die tote Frau hinein und trägt sie zusammen mit dem Wildhüter durch den Park zur Familiengruft. Er bekommt auch dieses Mal nichts zu trinken, wird bezahlt und geht. Das ganze Dorf wartet auf ihn! Die Rolle gefällt dem Schreiner allmählich und er läßt sich nicht lange bitten:
    »Das Gesicht der Toten war mit dem gleichen Spitzen-Schleier bedeckt, der Mann stand genauso die ganze Zeit über am Fenster... Und er hat den Pfarrer weggeschickt. Warum? Warum durfte der Pfarrer nicht mit dem Wildhüter und mir zum Grab gehen? Ich bin mir ganz sicher, es war Mord! Die beiden jungen Frauen sind von diesem Ungeheuer umgebracht worden. Und was macht unser Bürgermeister? Nichts! Überhaupt nichts! Ich geh’ jetzt zu ihm, ich will endlich wissen, was bei uns los ist!«
     
    Der Bürgermeister wüßte es auch gerne. Natürlich macht er sich Gedanken, aber was soll er unternehmen? Der Arzt hat beide Male den Totenschein ordnungsgemäß ausgestellt! Vielleicht erfährt er mehr, wenn er ihn besucht und direkt fragt? Doch der Doktor bedeutet ihm höflich, aber unmißverständlich, die Angelegenheit ginge ihn nichts an: »Ich habe die Totenscheine ausgestellt, wie das Gesetz es befiehlt. Das muß Ihnen genügen! Ich bin an meine Schweigepflicht gebunden, und ich sehe keinerlei Veranlassung, sie zu verletzen. Wenn Monsieur de B. über die Todesursachen seiner Gattinnen schweigt, so ist das sein gutes Recht!«
    »Aber, Herr Doktor... im Dorf erzählt man...«
    »Was man im Dorf erzählt, interessiert mich nicht! Ich muß ja nicht gewählt werden, Herr Bürgermeister! Wenn Sie Zweifel an den natürlichen Todesursachen haben, so steht es Ihnen frei, zum Grafen zu gehen. Oder zur Gendarmerie. Damit habe ich nichts zu tun!«
    Dabei bleibt es. Der Bürgermeister geht weder zum Schloß noch zur Polizei. Wenn der Arzt nichts Ungewöhnliches vermutet, und wenn keine Klage vorliegt, ja, dann kann er nichts unternehmen. Jede Ermittlung wäre zwecklos.
    Die Zeit vergeht ohne sonderliche Vorkommnisse. Die erhitzten Gemüter beruhigen sich wieder, und die Dorfbewohner leben eigentlich ganz zufrieden mit ihrer Legende, die sie berühmt und interessant macht. Eines Tages jedoch schlägt Monsieur de B. wieder zu! Er hat tatsächlich die Unverfrorenheit, zum dritten Mal mit einer jungen Braut auf dem Standesamt zu erscheinen — mit der Tochter seines Wildhüters! Einem achtzehnjährigen Mädchen, das vor kurzem das Heim verlassen hat, wo es aufgewachsen ist.
    Wie üblich dauert die Zeremonie nur einige Minuten. Als der Bürgermeister die obligatorische Formel ausspricht: »Wer gegen diese Ehe Einwände vorbringen möchte...« ja, da hofft er insgeheim, ein Wunder möge geschehen, und irgend jemand schreit ganz laut auf! Aber wer sollte bei dieser Hochzeitsgesellschaft Einwände haben? Der Bräutigam? Das junge Mädchen — fast noch ein Kind?
    Kaum. Oder etwa der zukünftige Schwiegervater — der Wildhüter? Bliebe nur noch der Amtsschreiber, der schon zum zweiten Mal die unbesetzte

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