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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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über Schwindsucht wußte. Keine seltene Krankheit damals — aber eine Krankheit, über die man nicht sprach. Schwindsüchtige waren Ausgestoßene in diesen Zeiten.
    Auch der Arzt wußte selbstverständlich Bescheid über die Todesursachen — und nach jeder Beerdigung ließ er das Sterbezimmer mit Formalin desinfizieren. Ja, schon — aber es genügte nicht. Man hätte alles verbrennen müssen, die alten Teppiche aus grauer Vorzeit, die schweren Samtvorhänge, das himmlische Bett mit dem großen Baldachin.
    In den Großstädten, da wußte man, wie tückisch und ansteckend diese Krankheit ist. Aber auf dem Land, weit ab von jeder Zivilisation, lebte man noch rückständig und abergläubisch. Man wußte nicht, daß ein Hochzeitsbett ein tödliches Nest von Tuberkel-Bazillen sein konnte.
     
    Was bleibt übrig von der gruseligen Legende? Nur Zufälle. Seltsame Zufälle.
     

Depesche aus dem Jenseits
     
    Hauptmann Marchall teilt die letzte Munition an seine 35 Männer aus. Wortlos wie immer. Aber heute abend tut er es mit so ernster Miene, als spende er ihnen mit den letzten Patronen zugleich die letzten Sakramente. Die Soldaten wissen längst, woran sie sind. Ihnen ist klar: mit diesen Patronen werden sie morgen früh ganz bestimmt nicht Salut schießen!
    Sie sitzen alle im Kreis wie die Pfadfinder um ihr Lagerfeuer — aber es brennt kein Feuer. Keiner redet mit dem anderen. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach, kämpft allein gegen die Angst.
    20 Kugeln pro Mann — und eine einzige für den Hauptmann!
    Bevor er sich zu seinen Männern auf den Boden setzt — was er sonst nie tut — zeigt er ihnen die tödliche kleine Kugel, die er in seiner Hand hin und her rollen läßt. Er lächelt dabei, als hätte er Spaß an dem Spiel und sagt: »Meine letzte Murmel — die darf ich nicht verlieren!«
     
    Das ist deutlich. Mehr braucht er nicht zu sagen. Alle wissen, was diese Worte bedeuten: »Lieber sterben als in die Hände des Feindes fallen!« Seit einer Woche haben jeden Tag zwei Kameraden versucht, bis zu den alliierten Einheiten durchzukommen und Verstärkung zu holen. Ohne Erfolg. Sie wurden alle aufgespürt, gefoltert und auf grausamste Weise verstümmelt. Der Belagerer warf ihre entstellten Leichen vor die Tore der Festung, zur Warnung: »Wehe, wenn ihr aus eurem Loch herauskriecht!«
    Sie sitzen in der Falle. Dürfen auch sie — wie ihr Hauptmann — eine erlösende Kugel für sich behalten? Wer im Krieg dabei erwischt wird, hat mit den härtesten Konsequenzen zu rechnen! Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle?
    Ein paar Soldaten verstecken eine solche »Reserve-Patrone« in ihrer Uniform, so unauffällig wie möglich. Hauptmann Marchall blickt unentwegt zu Boden und legt sogar seinen Kopf auf die Knie, womit er sagen will: »Macht nur, Jungs! Eine Kugel mehr oder weniger, darauf kommt es hier nicht an!«
    Nach einer Weile steht er wieder auf und reibt sich die Augen, als hätte er nur so vor sich hingeträumt und gar nichts bemerkt. Jetzt aber muß er sich wieder zur Ordnung rufen und seine Pflicht tun. Er muß seine Männer vor der letzten Schlacht aufmuntern.
     
    Wir schreiben das Jahr 1915, und der Erste Weltkrieg durchbricht alle Dämme — er wütet sogar in der Wüste, nahe der ägyptischen Grenze. Hauptmann Marchall, der dort dieses Häuflein Soldaten befehligt, weiß definitiv, daß die Lage nicht nur »verzweifelt ist, sondern hoffnungslos«. Es kann sich nur noch um Stunden handeln. In der Morgendämmerung kommt der letzte Angriff, und sie werden die Festung nicht mehr halten können — es wird ihr allerletzter Kampf sein. Es ist sinnlos, jetzt noch auf Hilfe, auf Verstärkung zu hoffen. Alle Unternehmungen in dieser Richtung sind bisher fehlgeschlagen. Hauptmann Marchall hat sich etwas von seinen Männern entfernt. Er sitzt abseits und betrachtet die kleine Kugel in seiner Hand — sie hat sich allmählich erwärmt und fühlt sich nun ausgesprochen angenehm an — nicht mehr so eisern-eisig kalt wie vorhin. Beide haben sich aneinander gewöhnt, und je näher der Tod heranrückt, desto fester klammert sich der Hauptmann an diese Begleiterin seiner letzten Stunden — sie wird ihm helfen, Haltung zu bewahren, den anderen beizustehen und dem Ende mutig entgegenzugehen.
    Die Nacht geht so schleichend vorüber, als wolle sie für diese Männer ewig dauern. Was mag in diesem Augenblick in jedem einzelnen vorgehen? Hauptmann Marchall denkt über das seltsame Schicksal nach, das ihn hierher

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