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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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könnte, aber die Freude des Mannes, ihn endlich gefunden zu haben, rührt ihn doch. Er beugt sich nieder und hilft dem Boten auf die Füße. Nun endlich bekommt er den geheimnisvollen Brief!
    Es ist nur ein einziges Blatt, ohne Kuvert, und so oft gefaltet, daß es klein wie ein Kärtchen aussieht. Ganz oben ist ein Name hingekritzelt. Mit Tinte, die sehr verblaßt ist — man kann die Schrift kaum noch entziffern! Aber bei genauerem Hinsehen kann man doch lesen: Hauptmann Marchall. Keine Frage, diese Nachricht ist an ihn gerichtet. Behutsam faltet Marchall das vergilbte Papier auseinander und im flackernden Licht einer Petroleumlampe beginnt er, sich den Brief Wort für Wort zusammenzubuchstabieren.
    Da sagt der alte Araber auf einmal:
    »Mein Vater hätte dir den Brief so gern selber gegeben, aber Allah hat es anders gewollt... er hat bestimmt, daß ich es an seiner Stelle tun darf.«
    »Dein Vater? Was willst du damit sagen?«
    »>Lies den Brief, er ist sehr wichtig<... hat mein Vater gesagt als er starb. Ich weiß nicht, was darin steht, ich kann nicht lesen! Mein Vater konnte es auch nicht, aber er wußte, wie wichtig diese Botschaft ist. Er hat dich so lange gesucht!«
    Hauptmann und Leutnant wechseln vielsagende Blicke: »Der Alte ist wirklich sehr verwirrt« — so etwa, milde ausgedrückt. Je nun — ob klar im Kopf oder nicht, seine Mission hat er jedenfalls erfüllt. Er hat den Brief DEM übergeben, an den er gerichtet war!
    Der Hauptmann hat jetzt die Anrede entziffert: Mein lieber Marchall — also kennt ihn der Absender persönlich und wahrscheinlich sogar sehr gut... Mein lieber Marchall! Weiter... Unverzüglich nach Empfang dieses Befehls ... — also stammt der Brief von einem Vorgesetzten… nach Empfang dieses Befehls, den ich Ihnen durch... diesen jungen Eingeborenen übermittle...
    Den jungen Eingeborenen? Was wird hier gespielt? Dieser Greis mit seinen Gebeten und dem ganzen Getue hat ihn also doch hereingelegt! Wie konnte er nur so gutgläubig sein! Niemand in einem Umkreis von mindestens 50 Kilometern weiß, daß er mit seinen 35 Kameraden hier in dieser Festung von den Türken belagert wird — nur der Feind weiß es!
    Marchall liest den Brief erst einmal nicht weiter — er sucht sofort nach der Unterschrift und traut seinen eigenen Augen nicht! Da steht BONAPARTE! Das ist ein Ding der Unmöglichkeit! Napoleon Bonaparte, Komma, den ... soundsovielten ... das ist kaum noch zu lesen... 1798! 1, 7, 9, 8, ja! 1798, das Jahr der Ägypten-Expedition von Bonaparte!
    »Wer hat dir diesen Brief gegeben?«
    Ganz ruhig, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, sagt der alte Wüstensohn:
    »Der General Bonaparte hat ihn meinem Vater gegeben, und mein Vater hat ihn dann mir gegeben, kurz bevor er gestorben ist... und er sagte mir — du mußt den Hauptmann Marchall finden!«
    Und der Araber erzählt die schier unvorstellbare Geschichte dieses Briefes, der 117 Jahre lang in der Wüste unterwegs war.
     
    1798 steht Napoleon Bonaparte kurz vor seiner ersten Niederlage am Nil. Er ist noch nicht Kaiser der Franzosen — nur ein junger, karrieresüchtiger General, der gerade im Begriff ist, restlos zu versagen und alle Hoffnungen, die in ihn gesetzt wurden, schändlich zu enttäuschen. Aber vor dem endgültigen Rückzug muß er wenigstens seine Truppen zusammentrommeln. Den Hauptmann
    Marchall, einen seiner fähigsten und ergebensten Offiziere, hatte er mit der heikelsten Mission betraut: Er sollte mit seinem Regiment so weit wie möglich in die Wüste Vordringen und die Stammesoberhäupter, die Scheichs, dazu überreden, doch noch Pakte mit Frankreich abzuschließen. General Bonaparte schreibt also seinem Offizier, jenem Hauptmann Marchall, und vertraut die Botschaft einem 22jährigen Araber namens Malúk an. Denn nur Eingeborene haben jetzt noch eine Chance, bis zu den Truppen in der Wüste durchzukommen!
    Malúk, stolz auf den Auftrag, macht sich mit dem Brief des Generals auf den Weg. Und er findet auch das französische Lager — doch er kommt zu spät. Hauptmann Marchall und seine Soldaten haben das kleine Fort schon verlassen. Anstatt zum Hauptquartier am Nil zurückzukehren, streift Malúk wochenlang, monatelang, jahrelang durch die Wüste und sucht den Hauptmann. Bonaparte hat sich schon längst, 1804, zum Kaiser gekrönt, da sucht Malúk, allein in der Unendlichkeit von Sand und Dünen, fernab jeglicher Zivilisation immer noch nach Hauptmann Marchall!
    Er stirbt 1874 im Alter von 98

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