Depesche aus dem Jenseits
gewesen, ich habe mit Ramos gesprochen, das kann ich beschwören! Und eine Viertelstunde danach — jetzt um halb vier — da war er weg!«
Einige Stunden später erfährt ganz Venezuela die seltsame Geschichte. Das Rätsel um die Todeszelle des Gefängnisses von Calabares macht riesige Schlagzeilen in allen Zeitungen. Den Journalisten macht die Sache langsam Spaß. Der Regierung und der Polizei weniger — sie ermitteln noch verbissener als beim ersten Mal. Ein Schwarm Polizisten umstellt das Gefängnis, die verborgensten Winkel werden durchwühlt. Das Fahndungsnetz über Calabares und Umgebung ist so feinmaschig wie nur möglich. Sogar die Armee muß anrücken.
Und natürlich werden alle Ecken und Winkel der berüchtigten Zelle 19 durch die Lupe inspiziert. Wieder prüft man die dicken Gitterstäbe und klopft Wände, Boden und Decke ab! Und wieder ist alle Mühe vergeblich. Nicht das kleinste Zeichen eines Ausbruchversuches! Kurz vor seiner Hinrichtung hat sich Angelo Ramos ebenfalls in Luft aufgelöst!
Der Direktor wird auf der Stelle gefeuert. Die Wächter müssen tagelang Kreuzverhöre über sich ergehen lassen. 1953 wie schon 1951 sucht die Polizei den »entflogenen« Ausbrecher im ganzen Land und schaltet Interpol wieder ein. Aber heute wie damals ist alles umsonst!
Es dauert einige Monate bis sich die Gemüter wieder beruhigen. Dann verliert die Öffentlichkeit allmählich das Interesse am »Geheimnis von Calabares«. Die beiden zum Tode Verurteilten sind irgendwo untergetaucht, und ihre Akten werden, im wahrsten Sinne des Wortes... ad acta gelegt — zusammen mit zwei riesigen Fragezeichen ?? Wie konnten sie aus der Todeszelle fliehen? Und wo sind sie geblieben?
November 1956. Nach dreijähriger Pause wird der dritte Direktor des Gefängnisses von Calabares von Unruhe erfaßt. Gerade wurde ein zum Tode Verurteilter in seine Anstalt verlegt: Diego Sanchez, Chef einer Bande, die auf die Ausraubung von Postämtern spezialisiert ist — und er hat einen Briefträger ermordet!
Der Direktor hat schon den Versuch gemacht, ein bißchen mit den Behörden zu handeln. Könnte man Sanchez nicht woanders unterbringen als ausgerechnet in Zelle 19? Müssen die Geister der Vergangenheit unbedingt heraufbeschworen werden? Aber die Behörden bleiben stur und antworten: »Es liegt an Ihnen, dafür zu sorgen, daß solche peinlichen Vorfälle nicht zur Routine werden! Zelle 19 ist und bleibt die Todeszelle! Halten Sie sich an die Bestimmungen!«
Der Direktor weiß, daß seine Karriere auf dem Spiel steht. Er ist ein Realist. Er glaubt nicht an Wunder, auch nicht an unlösbare Rätsel: Mit der Zelle 19 stimmt etwas nicht, irgend etwas steckt dahinter, und er ist überzeugt: Wenn zwei Gefangene es geschafft haben, kurz vor ihrer Hinrichtung — und vor den Augen der Wärter zu entfliehen — dann kann es höchstwahrscheinlich auch der dritte schaffen! Wie? Das ist eben die Frage, die Antwort darauf wird er schon herausfinden! Der Direktor sieht nur eine Möglichkeit, einen dritten Ausbruch zu verhindern: Er selber wird den Gefangenen die ganze Nacht lang beobachten. Nicht etwa jede Viertelstunde durch das Guckloch, nein — IN der Zelle! Er wird dem Verurteilten eben bis zum letzten Atemzug Gesellschaft leisten und ihn keinen Augenblick aus den Augen lassen. Jetzt ist endgültig Schluß mit dem Theater!
7. November 1956. Das Gnadengesuch von Diego Sanchez ist soeben abgelehnt worden. Die Hinrichtung ist auf den 11. angesetzt. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Noch am selben Abend strömen aus allen Himmelsrichtungen Horden von Journalisten nach Calabares und beziehen Posten rund um das Gefängnis. Die Bevölkerung der kleinen berühmtgewordenen Stadt fiebert dem großen Ereignis entgegen. Sogar Wetten werden abgeschlossen — und die stehen gut für den Todeskandidaten!
Der Gefängnisdirektor hat sich noch nie so über die sensationshungrigen Presseleute gefreut wie jetzt, obwohl er genau weiß, daß alle gegen ihn sind! Doch ohne es zu wollen, helfen sie ihm. Selbst wenn Diego Sanchez das Kunststück fertig bringen sollte, aus der undichten Zelle zu fliehen — bei der Menschenmenge, die das Gefängnis geradezu belagert, käme er nicht sehr weit! Also kann sich der Direktor erst noch mal aufs Ohr legen — wenigstens bis zum Anbruch der kritischen Nacht. Dann geht er eben selber ins Gefängnis. Sicher ist sicher, aber bis dahin — kein Wort darüber!
8. November 1956. 5 Uhr morgens. Der
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