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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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Caracas zu telefonieren, brüllt der Direktor seine Anweisungen und schlägt Alarm. Alle Wächter laufen durch die Gänge, öffnen die Zellen, durchsuchen das Gefängnis vom Keller bis zum Dachboden. Doch weder sie noch die Soldaten des Erschießungskommandos noch die Polizei finden die kleinste Spur des geflüchteten Gefangenen.
    Gegen Mittag trifft Verstärkung aus Caracas ein. Ganze Patrouillen durchkämmen Calabares und Umgebung... Wenn Rodrigo Lopez aus der Todeszelle ausgebrochen ist — was im Grunde genommen unvorstellbar ist — dann hat er kaum eine Chance durchzukommen.
    Die Zelle 19 wird Zentimeter für Zentimeter durchsucht und überprüft. Die stabilen dicken Gitterstäbe sind überhaupt nicht beschädigt — sie wurden nicht angesägt, nicht verbogen und auch nicht aus dem Zement herausgebrochen. Nein, sie stecken ganz fest! Die Wände, der Fußboden und die Decke werden abgesucht. Nirgendwo der kleinste Riß — und klopft man dagegen, ist nichts Auffälliges zu hören. Überall rundum derselbe stumpfe Klang.
     
    Als der Gefängnisdirektor am Abend mit dem Justizminister für Caracas telefoniert und zu ihm sagt: »Lopez muß sich in Luft aufgelöst haben!«, zeigt der hohe Beamte wenig Sinn für Humor. Der Direktor wird auf der Stelle seines Amtes enthoben.
    Es muß immer und überall schnell einen Sündenbock geben — aber damit ist das Rätsel nicht gelöst. Was ist tatsächlich passiert? An den folgenden Tagen werden die Aufseher rund um die Uhr verhört. Zwei waren für die strenge Bewachung der Todeszelle zuständig. Beim Drei-Uhr-Rundgang war der Verurteilte noch da. Um fünf Uhr wurde er zur Hinrichtung geweckt... Und zwischen fünf und sechs waren die beiden Wächter immer zusammen im Gang, direkt vor der Tür der Zelle 19.
    Bleibt natürlich die Möglichkeit, daß die beiden unter einer Decke stecken. Aber ihre Vergangenheit ist untadelig. Sie sind seit über zehn Jahren im Dienst, genießen den besten Ruf — beruflich wie privat — und sie beteuern lautstark ihre Unschuld. Die Polizei hat keinerlei Beweise, es bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihnen zu glauben.
    Monatelang wird im ganzen Land nach Rodrigo Lopez gefahndet — vergeblich. Selbstverständlich wird auch Interpol eingeschaltet, doch genauso erfolglos. Weder in Venezuela noch sonstwo auf der Welt taucht er wieder auf: Rodrigo Lopez ist am 19. Juli 1951, morgens zwischen fünf und sechs Uhr, kurz vor seiner Hinrichtung aus der Todeszelle verschwunden. Das ist alles, was man weiß. Mehr erfährt auch niemand. Weitere Monate verstreichen, und die Polizei gibt praktisch jegliche Hoffnung auf, den Verurteilten noch jemals zu ergreifen.
     
    28. März 1953. Seit einer Woche — und zum ersten Mal seit dem »Fall Lopez« — hat die Zelle 19 einen neuen Bewohner: Angelo Ramos, einen wohlbekannten Gauner. Spezialist im Safe-Knacken, hat er bei seinem letzten Coup kaltblütig zwei Geiseln ermordet, die ihn in der Arbeit gestört hatten. Ramos ist zum Tode verurteilt, sein Gnadengesuch ist abgelehnt worden.
    So eine dumme Geschichte, wie damals vor zwei Jahren, kann dem neuen Gefängnisdirektor nicht passieren. Da ist er sich absolut sicher. Er ist ein autoritärer Mann mit Mumm in den Knochen, und er hat seine Vorkehrungen getroffen! Ausgeschlossen, daß sich das Mißgeschick seines Vorgängers bei ihm wiederholt.
    In der Nacht vor der Hinrichtung verstärkt er die Wache vor Zelle 19: nicht nur zwei, sondern vier seiner zuverlässigsten Wächter postiert er vor der Todeszelle. Und sie haben den Befehl, jede Viertelstunde die Zelle zu betreten und nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.
    Genauso wie sein Vorgänger verbringt der Direktor diese kurze Nacht in seinem Büro, aber er geht nicht nervös auf und ab. Er legt sich hin und schläft fest. Er hat seinen Wecker auf fünf Uhr gestellt. Doch schon um halb vier wird er aus dem Schlaf gerissen. Jemand trommelt an seine Tür und schreit:
    »Herr Direktor! Herr Direktor! Kommen Sie schnell! Kommen Sie!«
    Er träumt wohl, ja er hat einen Alptraum... Aber die Rufe hinter der Tür werden immer dringlicher:
    »Beeilen Sie sich! Der Verurteilte ist verschwunden!« Zwei Minuten später — noch im Schlafanzug — steht der Direktor in Zelle 19.
    »Wir haben Ihre Anordnungen strikt befolgt! Wir sind alle vier die ganze Nacht vor der Tür geblieben. Keiner hat seinen Posten verlassen... und jede Viertelstunde sind zwei von uns in die Zelle gegangen! Um viertel nach drei bin ich selber drin

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