Depesche aus dem Jenseits
Bremsen nur einige Meter von der Landungsbrücke entfernt. Holdorf und Labalski steigen aus, schauen beide zum Deck hinauf. Eine junge Frau winkt... der Journalist und der Ehemann bleiben einen Augenblick stehen — nur ganz kurz, nur solange, um sich zu fragen, wem von beiden sie zuwinkt...
»Beeilen Sie sich doch!«, flüstert einer der Leibwächter, »verschwinden Sie, bevor es zu spät ist, verdammt noch mal!«
Weder Holdorf noch Labalski bemerken den Wagen, der leise angerollt kommt. Sie sehen auch nicht, wie das Seitenfenster heruntergekurbelt wird. Beide hören allerdings plötzlich die schrille Stimme: »Labalski!«
Mit unheimlich schnellem Reaktionsvermögen dreht sich Holdorf um und schreit:
»Ja, wer ruft mich?!«
Ein Maschinengewehr antwortet, und der ängstliche, betrogene Ehemann sackt zusammen vor den entsetzten Augen des Journalisten Gregori Labalski.
Erst einige Jahre später erfährt er, wer der Freund des Freundes des mutigen überflüssigen Ehemannes war. Er hieß Johannes Eilers — er war der Beichtvater von Franz von Papen — dem ehemaligen Vize-Reichskanzler.
Die Todeszelle
Venezuela — 19. Juli 1951. Noch bevor die Sonne in Calabares aufgeht, weiß der Gefängnisdirektor, daß der heutige Tag besonders heiß wird. Aber er ahnt noch nicht, wie heiß!
Schon seit einer Stunde läuft er in seinem Büro auf und ab, tritt ans Fenster, starrt in die Dunkelheit hinaus, machtlos wie nie zuvor. Er kann nichts tun, das weiß er wohl — aber er steht zum ersten Mal vor der Aufgabe, die er heute zu bewältigen hat. Alles muß reibungslos, so schnell und so unauffällig wie möglich erledigt werden — dafür ist er verantwortlich. Eine Verantwortung, die viel schwerer auf ihm lastet, als er je gedacht hätte.
Draußen im Gang hört er jetzt Schritte. Es ist bald soweit. Die ersten Sonnenstrahlen haben die Nacht vertrieben — übergangslos, beinahe brutal. Der Direktor wirft einen Blick in den Hof hinunter und sieht, wie zwei Wächter das Tor öffnen. Ein Militärlastwagen fährt langsam herein und hält vor dem Hauptgebäude. Soldaten klettern lautlos heraus: das Erschießungskommando. In einer halben Stunde wird alles vorbei sein — die erste Hinrichtung in diesem Gefängnis.
Der Direktor verläßt sein Büro, nickt den Männern wortlos zu, die vor seiner Tür auf ihn gewartet hatten und gibt ihnen zu verstehen, sie sollen ihm nun folgen. Sie gehen die Treppe hinunter zum Erdgeschoß, dann durch den langen Gang, der zum rechten Flügel des Gefängnisses führt, bis zur Zelle 19 — zur Todeszelle.
Rodrigo Lopez, neunundzwanzig Jahre alt, wurde bei einem Banküberfall in Caracas in flagranti ertappt. Es gelang ihm zunächst, mit der Beute zu fliehen, doch schon am nächsten Tag spürte ihn die Polizei auf. Bei der Verfolgungsjagd schoß Lopez einen Polizisten nieder, bevor er überwältigt wurde. Das war sein Todesurteil. Der Prozeß war nur noch eine Formsache — nach einem Schnellverfahren waren sich die Geschworenen und der Richter einig: Todesstrafe! Der Pflichtverteidiger reichte zwar ein Gnadengesuch ein — doch auch das war reine Formsache.
Nun steht der Direktor mit seinen Begleitern vor der Zelle 19. Ihm ist übel zumute. Er reibt sich den Hals unter dem plötzlich zu engen Hemdkragen und sagt sich noch einmal im Geiste die Worte vor, die er gleich sprechen muß:
»Lopez, Ihr Gnadengesuch ist abgelehnt worden, fassen Sie Mut!«
Auf ein Zeichen holt der Wächter seinen dicken Schlüssel heraus, steckt ihn ins Schloß und dreht ihn zweimal um. Ein entsetzliches, quietschendes Geräusch in diesem Augenblick. Der Direktor öffnet die Tür, bleibt an der Schwelle der Zelle stehen und sagt mit fester Stimme:
»Lopez, Ihr Gnadengesuch ist abgelehnt worden!«
»Irgend etwas stimmt hier nicht — es ist so still! Der Direktor geht zwei Schritte in die Zelle hinein und bleibt erschrocken stehen, dann stammelt er:
»Lopez? Lopez! Wo... Wo sind Sie denn?«
Eine idiotische Frage — aber verzeihlich angesichts der schier unglaublichen Tatsache: Die Zelle ist leer! Der Verurteilte ist verschwunden!
Die beiden Wächter, der Staatsanwalt, die Vertreter von Regierung und Gemeinde, auch der Geistliche — alle stürzen jetzt in die winzige Todeszelle hinein... Rodrigo Lopez ist nicht da! Weg, einfach weg!
Es dauert einige Minuten, bis die Männer ihre fünf Sinne wieder beisammen haben — dann herrscht allgemeiner Aufruhr. Während der Regierungsvertreter losrennt, um mit
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