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Der 21. Juli

Der 21. Juli

Titel: Der 21. Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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Wann kriegen wir dann wieder eine solche Chance? Vielleicht nie.«
    Gut, dass ich wenigstens mit einem offen sprechen kann, dachte Grujewitsch. Nikolai Nikolajewitsch ist ein Freund, einen besseren kann man sich nicht wünschen. Immer wenn Grujewitsch Sorgen hatte, ging er mit Iwanow spazieren, um zu sprechen. Sie kannten sich aus dem Krieg, als Smersch und Staatssicherheit zusammenarbeiteten, um Spione und Partisanen zu vernichten. Seit dem Krieg hatten sie sich nicht mehr über diese Arbeit unterhalten. Beide ahnten, es waren nicht nur feindliche Agenten und Volksschädlinge, die sie töteten.
    Grujewitsch und Iwanow stritten sich nur übers Essen, wo Iwanow die schwere russische Küche über alles pries, Grujewitsch dagegen für französische Speisen schwärmte oder für das, was die russischen Köche im Restaurant des Gewerkschaftshauses dafür hielten. Iwanow trank Wodka, Grujewitsch grusinischen Weinbrand.
    Iwanow beneidete seinen Freund nicht. Wenn Grujewitsch den Funkspruch unter den Tisch fallen ließ und doch was dran war, dann wurde der General als Saboteur aus dem Amt gejagt. Falls er nicht gar seine letzte Dienstreise antrat, nach Sibirien.
    Wenn Grujewitsch Berija empfahl, auf das Angebot der Deutschen einzugehen, und es war eine Fälschung, dann war er ein Saboteur. Wenn es eine Verschwörung in der Partei gegen Berija war und Grujewitsch ignorierte den Funkspruch, dann wurde er als Hochverräter erschossen, sollte der Staatssicherheitsminister politisch überleben. Wenn er Berija sagte, er wisse nicht, was es mit der Sache auf sich habe, dann war er untauglich als Chef der Spionageabwehr und wurde zum Teufel gejagt. Grujewitsch konnte machen, was er wollte, die Gefahr blieb an ihm kleben.
    Iwanow bewunderte seinen Freund, er blickte auf die hagere, lang aufgeschossene Gestalt neben ihm, den Rücken leicht vorgebeugt. Grujewitsch schien unerschüttert zu sein, angstfrei, fast fröhlich. Iwanow erinnerte sich an einen Feuerüberfall ukrainischer Banditen ein Jahr vor Ende des Kriegs. Während die Sondereinheit des NKWD im Feuerhagel in Deckung lag und die Verwundeten schrien, befahl Grujewitsch ruhig, fast gelassen den Gegenangriff. Es hätte schief gehen können, aber sie hatten keine Wahl. Überrascht über die konzentrierte Gegenwehr, waren die Partisanen geflohen. Auf beiden Seiten gab es viele Tote und Verletzte. Iwanow hatte mit dem Leben abgeschlossen; dass er nicht starb, verdankte er Grujewitschs Kaltblütigkeit.
    Grujewitsch hatte weniger Angst um sein Amt als davor, eine Chance zu verpassen. Wenn man eine Gelegenheit nicht gleich packte und festhielt, dann war sie verschwunden und kam nie wieder. Es ist wie mit dem Pfeil der Zeit. Die Zeit schreitet voran und nie zurück. Wir betrachten das als selbstverständlich, dachte Grujewitsch, aber es ist ein Wunder. Der Krieg hat uns furchtbare Wunden geschlagen. Minsk und Umgebung sind radioaktiv verseucht. Sie hatten zwanzig oder dreißig Millionen Tote, dazu noch die Opfer von Stalins Terror. Deutsche und Russen hatten auf ihren Rückzügen die sowjetische Erde verbrannt, Städte, Dörfer, Kolchosen, Fabriken, Kraftwerke. Nur Abrüstung und Handel konnten die Sowjetwirtschaft vor dem Untergang retten. Aber wie abrüsten, wenn man von Feinden umgeben war? Im Fernen Osten drohten die Japaner. Die hatten auch schwer gelitten im Krieg, aber sie waren nicht die einzige Gefahr. Im Westen standen die Deutschen an der ehemaligen russisch-polnischen Grenze. Hoch im Norden stieß das Sowjetreich fast an das Gebiet der USA, die dem Kommunismus feindlicher gegenüberstanden als je zuvor. Im Hass auf uns sind sie sich alle einig, Japaner, Deutsche und Amerikaner, dachte Grujewitsch. Aber die Amerikaner hassten auch die Deutschen und die Japaner, und das Bündnis zwischen Japanern und Deutschen war das Papier kaum wert, auf dem es stand, zu unterschiedlich die Interessen der einstigen Partner des Dreimächtepakts. Jetzt haben wir eine Chance, dachte Grujewitsch. Keine Ahnung, wie groß, aber haben wir eine Wahl? Nur ein paar Jahre Ruhe, und unser Land wird wieder so stark wie früher.
    »Wir funken eine Antwort«, sagte Grujewitsch.
    Iwanow lächelte: »Das war mir klar. Und was sagst du dem Genossen Berija?«
    »Nichts, warum dem Genossen Minister ungelegte Eier anpreisen?«
    »Du kennst das Risiko, Boris Michailowitsch«, sagte Iwanow.
    »Ja.«
    Am Abend ging Grujewitsch zu Anna. Sie hatte ihn anfangs für einen Feuerwehrmann oder Hotelportier gehalten.

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