Der 48-Stunden-Mann (German Edition)
Vorstellung abgeschlossen war, redeten alle gleichzeitig. Louise zog Hannah an sich. „Mach dir nicht die Mühe zu versuchen, sie alle auseinanderzuhalten. Das wird ein wenig dauern.“
Nick gab Hannah einen kleinen Kuss auf den Kopf. Die Wirkung spürte sie bis in die Zehenspitzen, und sie konnte nur hoffen, dass ihr der Schock und die Lust nicht an den Augen abzulesen waren. „Heute Abend werden Hannahund ich unsere Erinnerungen abgleichen. Ich bin sicher, gemeinsam schaffen wir es, alle richtig zu sortieren.“
Hannah war sich da nicht so sicher. Staunend betrachtete sie das riesige Wohnzimmer. Ein gewaltiger Kamin beherrschte die gegenüberliegende Wand, marineblaue Vorhänge verhüllten die deckenhohen Fenster. Die vier Sofas waren im selben Farbton gehalten und bildeten ein lockeres Rechteck. Ohrensessel mit marineblau und beige gestreiften Bezügen füllten die Ecken. Möbel und Fußboden waren aus hellem Pinienholz. Verschiedene Teppiche, Bilder und Überbleibsel von Kaffee und Kuchen verliehen dem Raum ein gemütliches, bewohntes Aussehen.
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man in einem so großen Haus lebte, aber es war offensichtlich, dass die Familie Haynes eine Menge Platz brauchte. Hannah zählte insgesamt elf Erwachsene und neun Kinder, dazu dann noch zwei weitere, die unterwegs waren.
Louise unterhielt sich mit Nick, zeigte auf verschiedene Personen und gab ihm ein paar kurze Hintergrundinformationen. Die Kinder jagten einander durchs Zimmer, während die Erwachsenen sich unterhielten und Hannah neugierige Blicke zuwarfen. Sie kam sich vor, als hätte man sie zur allgemeinen Unterhaltung vorgeführt. Die geballte Aufmerksamkeit war ihr unangenehm. Als Nick sich ihr wieder zuwandte und seine Hand unter den Zopf in ihren Nacken legte, protestierte sie nicht.
Dann dachte sie an das Bild, das sie sich von der gebrechlichen alten Frau gemacht hatte, die in einem Pflegeheim lebte, und fragte Louise: „Wohnst du hier?“
Ihre Mutter lachte. „Ich habe eine eigene Wohnung in der Stadt. Ein Apartment. Aber da bin ich nur sehr selten. Die Jungs halten mich auf Trab.“
Sie führte sie zu einem der Sofas und sie setzten sich –Louise auf der einen Seite neben Hannah, Nick auf der anderen.
„Du arbeitest für die Familie Haynes?“, fragte Nick.
Louise nickte. „Seit mehreren Jahren. Es fing damit an, dass unser Travis hier …“, sie wies auf einen der Brüder in Uniform, „… eine Haushälterin brauchte. Er und seine erste Frau hatten sich scheiden lassen, und er saß dann ganz allein in einem Haus herum, das so groß war wie dieses hier. Der Junge war nicht in der Lage, sich etwas zu kochen. Ich hatte Angst, er würde verhungern. Also hat er mich engagiert.“
Besagter Travis kam zu ihnen und setzte sich vor dem Sofa auf den Kaffeetisch. Sein welliges dunkles Haar war den Dienstvorschriften entsprechend kurz gehalten und reichte ihm im Nacken kaum bis zum Hemdkragen. Die Kakiuniform wies ihn als Glenwoods Sheriff aus. Hannah musste einen Schauder unterdrücken. Warum konnten ihre Brüder nicht Klempner oder Elektriker sein?
„Vielleicht erinnerst du dich noch, ich bin Travis.“
Unsicher lächelte Hannah ihn an. „Ja, hi.“
„Wir sind eine laute Bande, aber wir haben das Herz am rechten Fleck und haben uns richtig darauf gefreut, dich kennenzulernen.“
„Ihr seid dabei im Vorteil“, meinte Nick ungezwungen und legte Hannah den Arm um die Schultern. „Wir waren davon ausgegangen, dass Hannahs Mutter allein lebt. Ihr seid für uns eine überraschende Zugabe.“
Wenn Hannah nicht so nervös gewesen wäre, hätte sie die Augen verdreht. Nick war der Charme in die Wiege gelegt worden. Normalerweise hielt sie nicht sonderlich viel von Leuten, die durchs Leben segelten und schöne Worte statt Arbeit einsetzten, aber in diesem Fall war sie ungemein dankbar, ihn an ihrer Seite zu haben. Wie hätte sie auch damitrechnen sollen, dass sie mit einer ganzen Horde von Menschen verwandt war?
„Mit Louise ist es schon eine interessante Sache“, meinte Travis und zwinkerte der älteren Frau zu. „Seit Jahren gehört sie jetzt zur Familie.“
„Das hat sie gerade erwähnt“, bemerkte Hannah höflich.
„Und du bist mit uns beiden verwandt.“
Wenn sie Louises Tochter und gleichzeitig die Halbschwester der Brüder Haynes war, bedeutete das doch wohl, dass sie einen gemeinsamen Vater hatten. Demnach musste Louise vor fast achtundzwanzig Jahren eine Affäre mit diesem Vater gehabt haben.
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