Der 7. Tag (German Edition)
fragen wir.
„Na zu ihrem Zuhause.“
Wir verstehen natürlich nichts. Sie hat uns nichts
erzählt von einem Brief.
„Morgen“, sagt Gregor. „Lassen Sie uns morgen reden.
Es ist spät geworden.“
„Sie können sein Zimmer haben. Bitte,“ sagt Marissa.
12 qm, direkt am Strand. Unter einem sich träge
drehenden Ventilator ein Doppelbett mit einem bunten Kattunüberwurf. Ein
wackeliger Schrank, in dem noch Michaels Sachen hängen. Zwei Paar
abgeschnittene Jeans, vier T-Shirts, Turnschuhe. Mehr braucht man hier nicht.
An der Schranktür hängt ein verblichenes Foto von Sybille Thalheim. Der
Eisschrank macht ein Geräusch wie ein altes Auto. Aber er kühlt. Es steht noch
eine ungeöffnete Flasche Cola darin. Vom Bett aus hat man einen Blick auf das
Meer bis zum Horizont.
Rumpunsch unterm Ficus Benjamini. Zum Frühstück.
Marissa und Gregor haben einen Stapel Papiere mit auf die Terrasse gebracht.
Marissa hat rotgeweinte Augen.
„Wir haben wenig geschlafen“, sagt Gregor. Er zündet
sich eine Gitan an.
Michaels Abschiedsbrief
„Sybille und Michael. Sie haben sich geliebt. Sie
kamen in einem Urlaub, den sie hier verbracht hatten, öfter in die Strandbar.
Wir haben uns auf Anhieb verstanden.
Einmal haben wir die beiden zu uns nach Hause
eingeladen. Da es spät geworden war, haben wir sie in unserem Gästezimmer
schlafen lassen. Normalerweise holen wir nur alte Bekannte in unser Haus. Man
weiß sonst ja nie, wen man vor sich hat. Aber die beiden waren uns sympathisch.
Und so haben wir ihnen angeboten, dass sie jederzeit wieder bei uns wohnen
können, wenn sie wieder mal in der Gegend sind.
Nur ein paar Monate später stand Michael plötzlich
in der Strandbar am Tresen. Das ging aber schnell, sagte ich. Kann ich bei euch
wohnen, fragte er. Natürlich konnte er. Dass Michael auf der Flucht war, war
nicht zu übersehen. Wenn man selbst auf der Flucht ist, dann hat man einen
Blick dafür. Er hat uns von Anfang an reinen Wein eingeschenkt. Und wir haben
ihm geholfen, so gut wir konnten.“ Gregor hustet.
„Wir haben etwas für Sie. Gestern hat Gregor Ihnen
von dem Brief erzählt. Er hat mindestens zwanzig Entwürfe davon gemacht. Hier.“
Marissa gibt uns ein paar Papiere, die wir ungläubig studierten. Verschiedene
Entwürfe für einen Abschiedsbrief von Michael an seine Frau.
Atemlos lesen wir einen der Entwürfe. „Oh mein Gott,“
entfährt es uns. „Und dieser Mann hat sie verteidigt.“
„Als er uns die Geschichte seiner Flucht erzählt
hat, habe ich gleich gesagt, dass Sybille unbedingt informiert werden muss. Es
war doch klar, dass sie sich zu Tode ängstigt“, sagt Marissa.
„Das hätte ihren sicheren Tod bedeutet. Michael
hatte an dem bewussten Freitag sehr schnell zwei Dinge verstanden: erstens,
dass Ulli Henke ihn ruiniert hatte und zweitens, dass Henke ihn unbedingt an
diesem Wochenende aus dem Weg würde räumen müssen, wenn er damit durchkommen
wollte. Seine Notariatsgehilfin wäre am Montag wieder da gewesen und es war nur
eine Frage der Zeit, wann die Unterschlagung entdeckt werden würde. Aber dieses
Wochenende hätte er mit seiner Frau verbracht. Ullrich Henke hatte also
einkalkuliert, dass, wenn Michael nicht vorher erledigt werden würde, beide
würden verschwinden müssen.“
„Aber man hätte ihr doch irgendwie eine Nachricht
zukommen lassen können“, wirft Marissa wieder ein.
„Liebling, das diskutieren wir jetzt seit zwei
Jahren. Du weißt, dass sie überwacht wurde.“
„Ich hätte dich auch umgebracht, wenn du einfach
abgehauen wärst, ohne eine Zeile zu hinterlassen“, sagte Marissa trotzig. Und
wieder liefen ihr die Tränen runter.
Gregor ist inzwischen bei seiner zehnten Zigarette.
„Wissen Sie, das Beste an dieser Insel ist der Mangel an Verbindung mit der
großen weiten Welt der Kommunikation. Das macht unser Versteck zwar ziemlich
sicher, aber für Michael wurde es zum Verhängnis. Wir haben ihm erst mal einen
Job auf unserer Bananenplantage gegeben. Da hatte er es nur mit unseren
Arbeitern zu tun, da war er sicher. Und dann haben wir gemeinsam versucht,
Informationen aus Deutschland zu bekommen. Doch Michael hatte ziemliches Pech.
Der Mann, der ihm in Berlin geholfen hat, bekam kurz nach seiner Flucht einen
Schlaganfall. Er ist jetzt in einem Pflegeheim. Und der Mensch, der ihm in
Bremen einen neuen Pass beschafft hat, musste leider ganz schnell das Land
verlassen. Ich selbst habe überhaupt keine Kontakte nach Berlin. Und wir
wussten auch nicht, wem
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