Der Abgrund Kommissar Morry
Wenn nur ein Bruchteil von dem zutraf, was Tresscot da sagte, dann war nicht nur Alec Grangas geliefert, sondern auch er selbst. Sollte er sich denn wirklich in Grangas derartig getäuscht haben? Hatte ihn dieser Mann doch hinters Licht führen können? Nein, das konnte er nicht glauben! Sofort war Morry entschlossen, seinen einmal eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen. Mochte kommen, was da wolle!
„Jeff?" ertönte endlich wieder seine Stimme. „Sagten Sie nicht eben, daß der Mord schon seit zwei Stunden bekannt ist? Well, warum habe ich nicht früher Kenntnis davon erhalten?"
„Das ist es ja, was mich stutzig gemacht hat und weshalb ich annehme, daß man versucht, Ihnen einen Strick zu drehen", knurrte der Konstabler.
Wütend knirschte Morry mit den Zähnen, als er sich ausmalte, weshalb man ohne ihn auszukommen versuchte. Man hatte es absichtlich unterlassen, ihn zu benachrichtigen, damit er später vor vollendeten Tatsachen stehen und den Sündenbock spielen mußte. Nun, gewisse Personen würden sich wundern!
Morry und auch seine Mitarbeiter konnte man nicht auf diese Weise kaltstellen. Dann mußte schon der Teufel mit im Bunde sein, wenn es seinen Neidern gelingen sollte, ihn gewissermaßen in den Abgrund zu stoßen. Gewiß, irren ist menschlich! Aber in diesem Fall war Morry der Überzeugung, daß er bisher noch keinen Fehler begangen hatte. Seine nächste Frage an Tresscot bewies, daß seine Annahme richtig war.
„Wer führt heute Nacht die Mordkommission?" Er war wieder ganz ruhig.
„Kommissar Shannertoon!"
„Dachte ich es mir doch!" unterbrach der Kommissar seinen Konstabler.
„Robberts scheint seine Wühlarbeit durch seinen Schwager fortsetzen zu lassen. Aber das nutzt ihm alles nicht. Noch leite ich das Morddezernat, und ich werde auch den neuen Fall übernehmen!"
Während Morry seinem Teck noch weitere Fragen wegen der jüngsten Ereignisse am Regentis-Row stellte, begann er bereits seinen Schlafanzug abzustreifen, denn nun war an Schlaf nicht mehr zu denken. Jede Minute war kostbar. Je eher er den Fall in seine Hände nahm, um so weniger konnten ihm die offensichtlich feindlich gesinnten Schwäger Robberts und Shannertoon die Angelegenheit erschweren. Trotz der für ihn äußerst heiklen Lage, in die er durch die Freilassung Alec Grangas nun gekommen war, stahl sich ein Lächeln um seine Züge. Aber es war ein böses Lächeln. Doch beruhigend war, daß es Kommissar Shannertoom bis zur Stunde nicht gelungen war, den nach seiner Ansicht flüchtigen Alec Grangas wieder festzunehmen.
Nach der Erklärung des Konstablers hatte Shannertoon nichts unversucht gelassen, um diesen Mann irgendwie aufzutreiben. Aber sein Bemühen war vergebens. Der Kommissar überlegte, was Alec Grangas mit diesem Mord zu schaffen haben könne. Wo sich der Bursche jetzt wohl aufhalten mochte?
So sehr er aber auch alle Möglichkeiten in Betracht zog, eines blieb für ihn ein großes Fragezeichen: Wie war es möglich, daß Alec Grangas nicht mehr aufzufinden war? — Wohin hatte er sich gewandt?
Hätte Morry allerdings nur eine leise Ahnung gehabt, wo sich Alec Grangas in diesem Augenblick aufhielt, dann hätte auch er seine Meinung vielleicht revidiert. Jedenfalls hatte es den Umständen nach den Anschein, als ob Alec Grangas doch nicht eine so reine Weste habe, wie er es noch immer, trotz der erneuten Verdachtsmomente, von ihm annahm.
Der Gesuchte befand sich nämlich in diesem Augenblick dort, wo man einen Menschen seiner Bildung am wenigsten vermutet, im düstersten Viertel der Londoner Hafengegend, in den Slums von Poplar. Nachdem Morry mit seinem Konstabler Jeff Tresscot gesprochen hatte, vergingen keine fünf Minuten mehr, und er saß, vollständig angekleidet, hinter dem Steuer seines Jaguar.
Während sein scharfer Verstand den neuen Fall zu sezieren begann, lagen seine Hände ruhig auf dem Steuerrad. Er fuhr seinen Wagen aufmerksam und bedacht durch den noch dichter gewordenen Nebel. Sein erstes Ziel war der Ort, an dem der neue Mord geschehen war.
Allein schon die Wahl eines Tatortes sagt einem gewiegten Kriminalisten sehr viel über die Überlegungen eines Täters vor der Ausführung seines Verbrechens. Außerdem war sicherlich mit großer Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, ob die ausgeführte Tat eine Effekthandlung gewesen oder von langer Hand vorbereitet worden war.
Morry war einer der Männer des Yard, der seine scharfe Beobachtungsgabe unter Ausnutzung der modernen Methoden der Kriminalistik
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