Der Abgrund
Kugel in den Kopf geschossen wurde, verspürte man dabei Schmerzen? Web war angeschossen worden, lebensgefährlich verletzt. Er wusste, wie es war, wenn man zu sterben glaubte. Er hatte jedoch überlebt, weil er zu denen gehörte, die immer wieder aufstanden. Er hatte es im Leben viel schwerer gehabt als sie. Sie beriet andere Menschen bei ihren Schwierigkeiten und Problemen, und bis auf eine Scheidung, die einigermaßen versöhnlich über die Bühne gegangen war, hatte Claire in ihrem Leben keine heftigeren Turbulenzen überstehen müssen. Zum ersten Mal fragte sie sich, was außer ihren hübschen Abschlüssen und Diplomen ihr eigentlich das Recht gab, anderen Leuten zu sagen, wie sie ihre Probleme lösen sollten. Ja, Web hatte vieles überstanden. Claire glaubte nicht, dass sie genauso stark war.
Als der Kofferraum geöffnet wurde und starke Hände sie ergriffen und hochhievten, atmete sie tief ein. Es war nicht O'Bannon. Claire wusste, dass der Mann nicht besonders kräftig war. Ringsum hörte sie die Geräusche des Waldes und der Tiere, die darin lebten und die sich bald über ihre sterbliche Hülle hermachen würden. Anfangs kämpfte sie noch gegen ihre Tränen an, doch dann ließ sie ihnen freien Lauf. Diesen Leuten wäre es sowieso egal.
Sie spürte, wie der Mann über unebenes Gelände schritt, einige Male stolperte, sich aber jedes Mal wieder fing. Seine Füße wechselten von Erde zu etwas anderem, Holz, Steine oder vielleicht auch Asphalt, sie war sich nicht sicher, aber sie hatte die unterschiedlichen Geräusche deutlich ausmachen können. Dann wurde eine Tür aufgeschlossen und geöffnet. Das überraschte sie, denn sie hatte angenommen, dass sie sich weitab von jeglicher Behausung befanden. Vielleicht war es eine Waldhütte, aber dann hörte sie irgendwelche Maschinen laufen und etwas, das für sie klang wie fließendes Wasser. War ein Bach oder gar ein Fluss in der Nähe? Vielleicht ein Staudamm oder ein Klärwerk? Würde ihre Leiche dort verschwinden? Dann hatte sie das Gefühl, nach oben oder unten getragen zu werden. Aber auch darin war sie sich nicht sicher, denn außer ihrem Gleichgewichtssinn hatte sie auch jegliches Richtungsgefühl verloren. Ihr war jetzt ausgesprochen schlecht, und dass ihr Magen schwer auf der harten Schulter des Mannes lag, machte ihren Zustand nicht gerade angenehmer. Sie nahm außerdem einen strengen Geruch nach irgendwelchen Chemikalien wahr, der ihr irgendwie vertraut vorkam, aber sie konnte ihn nicht identifizieren, so verwirrt waren ihre Sinne. Einen kurzen Moment lang glaubte sie, dass es sie mit einer gewissen inneren Befriedigung oder mit Triumph erfüllen würde, wenn sie sich übergab und den Mann besudelte, aber genauso gut könnte ihn das zur Eile antreiben und ihren Tod beschleunigen.
Eine weitere Tür wurde geöffnet, und sie gingen hindurch und betraten vermutlich einen anderen Raum. Er ging in die Hocke und legte sie auf etwas Weiches, Nachgiebiges, wahrscheinlich ein Bett. Ihr Rock war hochgerutscht, während sie auf der Schulter des Mannes gelegen hatte, und sie konnte ihn, da ihre Hände gefesselt waren, nicht runterziehen. Sie verkrampfte innerlich, als sie spürte, wie seine Hände an ihren Beinen hochfuhren, so dass sie schon glaubte, er würde ihr jeden Moment den Slip runterreißen und der Liste seiner Verbrechen auch noch eine Vergewaltigung hinzufügen. Er zerrte jedoch lediglich ihren Rock in seine normale Position herunter.
Dann zog er ihre gefesselten Hände hoch über ihren Kopf, und das Klirren von Metall brachte sie auf den Gedanken, dass er ihre Gelenke an irgendetwas befestigt hatte, vielleicht an einem Bettgestell oder an einem in eine Wand einbetonierten Eisenring. Als er sich entfernte, versuchte sie, die Hände herunterzunehmen, aber sie ließen sich keinen Deut bewegen. Egal, woran man sie gefesselt hatte, sie würde sich aus eigener Kraft nicht befreien können.
»Sie kriegen in Kürze Wasser und etwas zu essen. Versuchen Sie erst mal, sich zu entspannen.« Sie erkannte die Stimme nicht. Der Mann lachte nicht über seine völlig absurden Worte, aber Claire konnte den Spott dahinter deutlich heraushören.
Die Tür wurde geschlossen, und sie war erneut allein. Allein, bis sie eine Bewegung auf der anderen Seite des Raums wahrnahm.
»Sind Sie okay, Lady?«, fragte eine Jungenstimme.
KAPITEL 47
Web machte sich allmählich Sorgen. Claire hatte nicht zurückgerufen, und er hatte im Hotel angerufen, doch dort hatte sich niemand
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