Der Abgrund
gemeldet. Er rief in ihrem Haus an und bekam auch dort keine Antwort. In der Praxis hatte man sie nicht gesehen. Sie hatte keine Patiententermine, denn das war ihr üblicher freier Tag. Vielleicht machte sie eine Spazierfahrt, besuchte ihre Tochter oder dergleichen. Doch sie hatte ihm gegenüber nichts Derartiges angedeutet, und warum ging sie nicht ans Handy, wenn sie unterwegs war? Sein professioneller Instinkt sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte.
Er ließ Romano auf East Winds zurück und fuhr zum Hotel. Es war nicht gerade ein Haus, in dem irgendwer auf das Kommen und Gehen der Gäste achtete, aber Web wollte es trotzdem versuchen. Doch das Personal, das sie am vergangenen Abend möglicherweise hatte hereinkommen sehen, hatte noch nicht den Dienst angetreten. Und niemand von denen, die er fragte, konnte sich erinnern, jemanden, der Claire auch nur ähnlich sah, am Vortag im Foyer gesehen zu haben. Außerdem stand ihr Wagen nicht auf dem Parkplatz.
Web fuhr zu Claires Haus, fand an der Hinterfront ein offenes Fenster und stieg ein. Er durchsuchte das Haus gründlich, fand jedoch keinen Hinweis darauf, wohin sie gefahren sein könnte. Er entdeckte ein Notizbuch mit der Telefonnummer und Adresse ihrer Tochter. Sie ging in Kalifornien zur Schule, daher war nicht damit zu rechnen, dass Claire ihr einen Besuch abstattete. Web überlegte, ob er die Tochter anrufen sollte, aber ein Anruf vom FBI würde dem Mädchen nur unnötig Angst einjagen, wenn sich am Ende herausstellte, dass kein Anlass zur Sorge bestand.
Er verließ das Haus und begab sich zu Claires Büro.
O'Bannon war nicht da, aber eine andere Frau, die dort arbeitete. Sie hatte nicht mit Claire gesprochen und wusste nicht, wo sie sein könnte.
»Noch drei Fehlversuche, und du bist draußen«, murmelte Web vor sich hin.
Er ging hinunter zum Sicherheitsdienst, zeigte seine Dienstmarke und erkundigte sich, ob in der vorangegangenen Nacht irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen war. Der Mann vom Wachdienst nahm angesichts der FBI-Marke sofort eine stramme Haltung an und blätterte das Berichtsbuch der Nachtschicht durch. Web hatte die Sicherheitsüberprüfung durchlaufen, als er Claire besucht hatte, weil Gäste sich eintragen mussten, aber diesen Wachmann kannte er nicht. Wahrscheinlich wurden sie im Rotationsverfahren in verschiedenen Objekten eingesetzt.
»Ja, hier ist ein Anruf von Dr. Daniels um null Uhr dreißig eingetragen. Sie erklärte, die Beleuchtung in ihrem Büro wäre ausgefallen, und der Wachmann teilte ihr mit, das Stromnetz sei in Ordnung und die Störung sei vielleicht in ihrem Sicherungskasten zu suchen, und fragte sie, ob sie Hilfe brauchte.« Der junge Mann las das alles in geschraubtem Tonfall, aber mit leicht bebender Stimme vor, die kaum die Pubertät hinter sich zu haben schien.
»Sie verneinte, und damit war die Angelegenheit erledigt.« Er schaute von dem Buch hoch. »Soll ich irgendetwas tun?«
Die großen Augen des jungen Mannes bettelten Web regelrecht an, einen Befehl zu irgendeinem Einsatz zu geben. Der Bursche war bewaffnet, stellte Web fest, und wäre es besser wohl nicht gewesen.
»Ich weiß, dass Sie eine Liste über alle Besucher führen, die das Gebäude betreten und verlassen. Ich habe mich ebenfalls gerade eingetragen, als ich reinkam.«
»Das ist richtig.«
Web wartete geduldig einige Sekunden lang, aber der junge Mann schien nicht zu begreifen.
»Darf ich die Liste mal sehen?«, fragte Web schließlich.
Der junge Mann sprang beinahe von seinem Stuhl hoch, Web hatte bemerkt, dass der Bursche sein Gesicht genau betrachtet hatte und ihn vielleicht von all den Berichten im Fernsehen wiedererkannte. Wahrscheinlich glaubte er, dass Web halb irre war und man ihm um jeden Preis entgegenkommen müsste, wenn man nicht eines gewaltsamen Todes sterben wollte. Und im Augenblick war es Web nur recht, wenn er diesen Eindruck machte.
»Ja, Sir.«
Er holte das Buch hervor, und Web überflog schnell die entsprechenden Seiten. Während der Dienstzeit am Tag vorher waren viele Besucher im Haus gewesen, aber die Geschäftsstunden endeten um sechs. Er sah den Wachmann an.
»Was ist mit der Zeit nach Feierabend? Wie kommt man dann ins Haus?«
»Nun, wir haben hier ein Magnetkarten-System, und die Türen schließen sich automatisch um sechs. Wenn man nach sechs ins Haus will, muss ein Mieter unten anrufen und dem Wachdienst Bescheid sagen, und wenn der Besucher kommt, rufen wir rauf, und der Mieter muss runterkommen und
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