Der Abgrund
Ernährung und Schlafrhythmus, Entspannungsübungen und angsthemmende Medikamente.«
»Das klingt ja verdammt einfach!«, erwiderte er sarkastisch.
Sie sah Web auf eine sehr seltsame Weise an.
»Manchmal ist es einfach.« Sie widmete sich wieder ihren Unterlagen. »Also, haben Sie an sich irgendwelche körperlichen Veränderungen beobachtet? Frösteln, Benommenheit, Schmerzen in der Brust, erhöhter Blutdruck, Atemnot, Erschöpfung, Übelkeit, irgendetwas in der Art?«
»Als ich das erste Mal zum Hof zurückkehrte und mir noch einmal alle Ereignisse bewusst machte, fühlte ich mich etwas schwindlig.«
»Und seitdem?«
»Nichts.«
»Gut. Waren Sie in letzter Zeit sehr reizbar?«
Web musste nicht lange nachdenken. »Nein, eigentlich nicht.«
»Haben Sie irgendwelche Substanzen genommen, weil Sie sich unwohl fühlten? Tabletten, Alkohol?«
»Nein. Ich habe sogar weniger getrunken als sonst.«
»Plötzliche lebhafte Erinnerungen an den Vorfall?«
Web schüttelte den Kopf.
»Fühlen Sie sich taub, wollen Sie sich aus dem Leben und vor anderen Menschen zurückziehen?«
»Nein, ich will herausfinden, was geschehen ist. Ich will aktiv sein.«
»Regen Sie sich leichter über andere Menschen auf? Reagieren Sie gereizter oder feindseliger gegenüber anderen Menschen als sonst?« Sie sah ihn an und lächelte. »Anwesende natürlich ausgenommen.«
Web erwiderte das Lächeln kurz. »Eigentlich nicht. Ich glaube, ich habe mich sogar verhältnismäßig ruhig verhalten.«
»Anhaltende Depressionen, Panikattacken, Angstzustände oder verstärkte Phobien?«
»Nichts dergleichen.«
»Gut. Haben Sie plötzlich und ungewollt die Ereignisse
wieder vor Augen? Als Tagtraum oder Albtraum?«
Web sprach langsam, während er sich einen Weg durch dieses mentale Minenfeld suchte. »Im Krankenhaus, in der Nacht danach, hatte ich ein paar schlimme Träume. Man hatte mich mit Medikamenten voll gepumpt, aber ich weiß noch, dass ich mich immer wieder vor den Ehefrauen der Männer entschuldigt habe.«
»In Anbetracht der Umstände etwas völlig Natürliches. Haben Sie es seitdem noch einmal erlebt?«
Web schüttelte den Kopf. »Ich war vollauf mit den Ermittlungen beschäftigt«, rechtfertigte er sich. »Aber ich denke die ganze Zeit daran. Ich meine, was im Hinterhof geschah, hat mich fertig gemacht. So etwas habe ich noch nie erlebt.«
»Aber im Verlauf Ihrer Arbeit sind Sie schon des Öfteren mit dem Tod konfrontiert worden.«
»Ja, aber es hat nie jemanden aus meinem Team getroffen.«
»Haben Sie das Gefühl, dass Sie einen Teil des Geschehens verdrängt haben? Was wir als Gedächtnisstörung oder Amnesie bezeichnen?«
»Nein, ich kann mich ziemlich gut an jedes einzelne verdammte Detail erinnern«, antwortete Web erschöpft.
Während Claire auf ihre Notizen blickte, platzte es aus Web heraus: »Ich wollte nicht, dass sie sterben, Claire. Es tut mir so Leid. Ich würde alles tun, um sie wieder zum Leben zu erwecken.«
Sie blickte zu ihm auf und legte ihre Notizen beiseite. »Web, hören Sie mir bitte gut zu. Wenn bei Ihnen keine Symptome eines posttraumatischen Schocks feststellbar sind, bedeutet das nicht, dass es Ihnen gleichgültig ist, was mit Ihren Freunden geschehen ist. Es bedeutet nicht, dass Sie nicht darunter leiden. Das sollten Sie sich bewusst machen. Ich sehe in Ihnen einen Menschen, der unter Symptomen leidet, die völlig normal für jemanden sind, der ein zutiefst erschütterndes Erlebnis hatte. Die meisten Leute wären in einer solchen Situation völlig am Boden zerstört, zumindest für längere Zeit.«
»Aber nicht ich.«
»Sie haben einzigartige Fähigkeiten, eine jahrelange Ausbildung und gute psychologische Voraussetzungen, die es Ihnen erst ermöglicht haben, für die Geiselrettung ausgewählt zu werden. Ich habe viel über Geiselretter dazugelernt, seit Sie zum ersten Mal zu mir kamen. Ich weiß, dass Sie außergewöhnlichen körperlichen Belastungen ausgesetzt sind, aber der psychische Stress muss noch viel schwerer sein. Weil Sie ausgezeichnete physische und mentale Voraussetzungen mitbringen, können Sie wesentlich mehr einstecken als die meisten Leute. Sie haben diese Tragödie überlebt, aber nicht nur in körperlicher Hinsicht, sondern auch mit intakter Psyche.«
»Also habe ich kein posttraumatisches Stress-Syndrom?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
Er blickte auf seine Hände. »Heißt das, wir sind jetzt fertig?«
»Nein. Nur weil Sie kein Trauma davongetragen haben, heißt das
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