Der Abgrund
erzählen soll. Und dann spazierten sie einfach auf den Schauplatz und spazierten mit dem falschen Jungen einfach wieder davon. Er ist wahrscheinlich tot. Verdammt, Kevin ist wahrscheinlich auch schon längst tot.«
»Klingt, als hätte jemand diese Aktion ziemlich genau geplant«, sagte Claire.
»Und ich wüsste sehr gern, warum.«
»Wir können versuchen, ob wir weiterkommen, Web. Ich kann Ihnen bei einigen Sachen helfen, aber die Ermittlungsarbeiten finden außerhalb meines Gartenzauns statt.«
»Eigentlich liegt das auch außerhalb meiner Kompetenzen. In den letzten acht Jahren habe ich kaum noch Detektivarbeit geleistet.« Er spielte mit dem Ring, der an seinem Finger steckte. »O'Bannon hat eine kleine Anfeuerungsrede über
Kriegsneurosen gehalten, als ich heute Früh in Ihre Praxis kam.«
Claire zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich? Seine Vietnam-Geschichte?« Sie schien sich alle Mühe zu geben, nicht zu grinsen.
»Mir war ziemlich klar, dass er diese Story nicht zum ersten Mal zum Besten gegeben hat. Aber glauben Sie, dass es so etwas sein könnte? Ich meine, trotz dieser anderen Sache mit dem Kind?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Web, noch nicht.«
»Sehen Sie, ich weiß, dass so etwas mit Soldaten passiert. Jemand schießt auf sie, und sie drehen durch. Das kann jeder nachvollziehen.«
Sie musterte ihn aufmerksam. »Aber?«
Plötzlich redete er sehr schnell. »Aber die meisten Soldaten bekommen eine kurze Grundausbildung, und dann werden sie ins Feuer geschickt. Sie haben nicht die geringste Ahnung davon, wie es ist, jemanden zu töten. Sie wissen überhaupt nicht, wie es ist, im Feuer zu stehen. Ich dagegen wurde viele Jahre lang darauf trainiert, meinen Job zu machen. Man hat Sachen mit mir angestellt, die Sie niemals glauben würden, Claire. Ich musste Maschinengewehrfeuer und Mörserbeschuss aushalten; und wenn ich nur einen Treffer abbekommen hätte, wäre nichts mehr von mir übrig gewesen. Ich habe es geschafft, Menschen zu töten, während mein eigenes Blut eine riesige Pfütze auf dem Boden bildete. Und niemals, nicht ein einziges Mal, hatte ich einen solchen Aussetzer wie in jener Nacht. Und zu diesem Zeitpunkt war noch kein einziger verdammter Schuss abgefeuert worden. Sagen Sie mir, wie so etwas möglich ist!«
»Web, ich weiß, dass Sie nach Antworten suchen. Wir haben noch viel Arbeit vor uns. Aber ich kann Ihnen sagen, dass alles möglich ist, wenn der menschliche Geist im Spiel ist.«
Er starrte sie an, schüttelte den Kopf und fragte sich, wie er jemals von dieser Straße herunterkommen sollte, auf der er sich befand. »Nun, Doc, das ist nicht besonders hilfreich, meinen Sie nicht auch? Wie viel zahlt Ihnen das FBI, damit Sie mir nichts sagen?« Abrupt stand er auf und ging.
Auch diesmal versuchte Claire nicht, ihn aufzuhalten - nicht, dass sie irgendetwas hätte tun können. Sie hatte schon häufiger erlebt, wie Patienten aufstanden und gingen, aber noch nie während der ersten beiden Sitzungen. Claire lehnte sich zurück und sah ihre Notizen durch. Dann nahm sie ein Aufzeichnungsgerät und diktierte ihren Bericht.
Als Web aus der Praxis stürmte, machte sich kurz darauf auch Ed O'Bannon auf den Weg. Er fuhr mit dem Aufzug zur Garage hinunter, stieg in sein brandneues Audi-Coupe und fuhr los. Er nahm sein Handy und tippte eine Nummer ein. Es klingelte einige Male, aber schließlich wurde sein Anruf beantwortet.
»Ist der Zeitpunkt günstig?«, fragte er vorsichtig.
Der Teilnehmer am anderen Ende antwortete, dass der Zeitpunkt so günstig wie jeder andere sei, falls das Gespräch kurz und sachlich geführt wurde.
»London war heute hier.«
»Davon habe ich gehört«, sagte die Stimme. »Einer meiner Mitarbeiter war da, um was zu reparieren. Also? Wie läuft es mit dem guten alten Web?«
O'Bannon schluckte nervös. »Er geht jetzt zu einem anderen Psychiater.« Schnell fügte er hinzu: »Ich habe mir alle Mühe gegeben, es zu verhindern, aber da war nichts zu machen.«
O'Bannon musste den Hörer ein Stück von seinem Ohr entfernen, so laut war die wütende Antwort von der anderen Person.
»Bitte, so war das alles nicht geplant«, sagte O'Bannon. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass er wirklich den Therapeuten wechseln würde. Es kam aus heiterem Himmel... Wie bitte? Ihr
Name ist Claire Daniels. Sie hat früher einmal für mich gearbeitet. Sie praktiziert hier schon seit vielen Jahren, und sie ist sehr kompetent. Unter anderen Voraussetzungen wäre das gar
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