Der Abgrund
nicht, dass Sie gar keine Probleme haben. Sie sollten unbedingt ein paar Dinge aufarbeiten, die Sie vielleicht schon seit langer Zeit mit sich herumtragen - länger, als Sie beim HRT arbeiten.«
Sofort wurde er misstrauisch und lehnte sich zurück. Er konnte nichts gegen diese Reaktion tun. »Zum Beispiel?«
»Das wollen wir in unserem Gespräch herausfinden. Sie erwähnten, dass Ihre Kollegen Ihre Familie waren. Ich würde gern wissen, ob Sie sich jemals eine eigene Familie gewünscht haben.«
Web dachte eine Weile nach, bevor er auf diese Frage antwortete. »Ich habe mir immer vorgestellt, eines Tages eine große Familie zu haben, wissen Sie: Söhne, mit denen ich Ball
spielen, Töchter, die ich verhätscheln kann, die ihren alten Dad um den Finger wickeln können. Dass ich all das lächelnd mit mir machen lassen würde.«
Claire nahm wieder Block und Kugelschreiber auf. »Und warum kam es nie dazu?«
»Plötzlich waren die Jahre wie im Flug vergangen.«
»Das ist alles?«
»Genügt Ihnen das nicht?«
Sie sah ihm ins Gesicht, auf die gute und die schlechte Hälfte. Web drehte den Kopf zur Seite.
»Tun Sie das immer?«
»Was?«
»Ihre verletzte Gesichtshälfte abwenden, wenn jemand Sie ansieht.«
»Ich weiß es nicht. Ich denke nicht darüber nach.«
»Ich habe den Eindruck, dass Sie sehr genau über alles nachdenken, was Sie tun, Web.«
»Schon möglich.«
»Wir haben noch gar nicht über private Beziehungen gesprochen. Haben Sie eine Partnerin?«
»Meine Arbeit lässt mir dafür nicht allzu viel Zeit.«
»Alle anderen Männer in Ihrem Team waren verheiratet.«
»Vielleicht waren sie auf diesem Gebiet besser als ich«, erwiderte er kurz angebunden.
»Sagen Sie mir, wie Sie zu dieser Gesichtsverletzung gekommen sind.«
»Müssen wir wirklich darüber reden?«
»Mir scheint, dass Ihnen das Thema sehr unangenehm ist. Wir können auch über etwas anderes reden.«
»Nein, verdammt, es ist mir nicht unangenehm!«
Er stand auf, zog seine Jacke aus, und Claire sah mit zunehmendem Erstaunen zu, wie Web die oberen Knöpfe seines Hemdes öffnete, um ihr die Schusswunde am Hals zu zeigen. »Die Verletzungen im Gesicht habe ich erlitten, kurz bevor ich diese Verletzung hier erlitt.« Er zeigte auf das Loch am Halsansatz. »Eine Gruppe weißer Rassisten, die sich >Freie Gesellschaft nannte, hatte eine Schule in Richmond besetzt. Während mein Gesicht wie die Hölle brannte, erwischte mich einer mit einer 357er-Magnum-Patrone. Eine saubere Wunde, ein glatter Durchschuss. Nur einen Millimeter nach links, und ich wäre entweder tot oder querschnittsgelähmt gewesen. Ich habe noch ein Loch, aber das werde ich Ihnen nicht zeigen. Es befindet sich genau hier.« Er berührte die Wunde in der Nähe der Achselhöhle. »Das war eine Patrone, die wir als >Chunneler< bezeichnen - nach dem Tunnel unter dem English Channel, dem Ärmelkanal, und den Riesenbohrmaschinen, die ihn gegraben haben? Es ist ein verdammt heimtückisches Projektil, Claire. Mit Stahlmantel. Es bohrt sich mit etwa Mach drei in den Körper. Und alles, was ihm in den Weg kommt, wird pulverisiert. Es ist mitten durch mich hindurchgegangen und hat den Kerl getötet, der genau hinter mir stand und mir gerade mit einer Machete den Schädel spalten wollte. Wäre es stattdessen ein Dum-Dum-Geschoss gewesen, würde das Ding noch immer in mir stecken, und ich wäre tot, weil eine Machete meinen Kopf halbiert hätte.« Er lächelte. »Ich meine, können Sie sich vorstellen, dass es so ein geniales Timing gibt?«
Claire hatte den Blick gesenkt und schwieg.
»He, Doc, wenden Sie nicht den Blick ab! Das Beste haben Sie noch gar nicht gesehen!« Sie sah auf, während er ihr seine zerstörte Gesichtshälfte zuwandte.
»Diesen wunderschönen Anblick habe ich einem Flammenwerfer zu verdanken, der beinahe meinen guten Kumpel Lou Patterson ins Jenseits befördert hätte - Sie wissen, der Ehemann der Frau, die mich vor der ganzen Welt als Feigling hinstellte. Sie haben es bestimmt im Fernsehen verfolgt. Meine Schutzmaske ist mit der Haut verschmolzen. Ich habe gehört, dass ein Arzt und eine Krankenschwester in Ohnmacht gefallen sind, als sie mich im Krankenhaus von Richmond sahen. Diese Seite war eine einzige klaffende Wunde. Jemand sagte sogar, ich hätte schon halb verwest ausgesehen. Fünf Operationen, Claire, und die Schmerzen. Ich kann Ihnen sagen, dass die Schmerzen keineswegs weniger wurden. Sie mussten mich mehrere Male festschnallen. Und als ich
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