Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
lieber im Wald sterben, als dich von ein paar deiner Wagenleute in Lumpen sehen lassen willst?«
»Ja!«, schrie sie. »Ja! Du hältst mich für töricht? Recht hast du! Deinetwegen verließ ich meine Heimat und floh aus dem Land meines Vaters. Soll ich dorthin zurückkriechen wie ein geprügelter Hund? Lieber will ich tausend Tode sterben! Alles andere hat man mir genommen – willst du nun auch noch, dass ich mich vor dir auf den Bauch werfe?« Sie sank zu Boden, die weißen Knie tief im Lehm. »Dann will ich dich anflehen: Geh nicht in die Hoch-Thrithinge. Wenn du aber doch gehst, dann lass mir für eine Weile zu essen da, und ich will durch den Wald zu diesem Stein wandern.«
»Das ist doch Wahnsinn von der übelsten Art«, knurrte Josua. »Hast du Geloës Worte nicht gehört? Wenn die Sithi dich nicht als Eindringling töten, fangen dich die Nornen und tun dir noch Schlimmeres an.«
»Dann töte du mich.« Sie griff nach oben, wo Naidel in seiner Scheide an Josuas Gürtel hing. »Eher sterbe ich, als dass ich in die Thrithinge zurückgehe.«
Josua packte ihr Handgelenk und zog sie hoch. Sie wehrte sich gegen seinen Griff und trat mit dem schlammbespritzten, abgetragenen Pantoffel nach seinem Schienbein. »Du bist ein Kind«, sagteJosua ärgerlich und wich zur Seite, als sie ihn mit der freien Hand nach seinem Gesicht schlug. »Ein Kind mit Krallen.« Er zog sie herum, sodass sie mit dem Rücken zu ihm stand, und schob sie dann stolpernd vor sich her bis zu einem umgestürzten Baum. Dort setzte er sich hin, ohne sie loszulassen; gefangen hockte sie auf seinem Schoß, und seine Arme umschlossen die ihren und pressten sie an ihre Seiten.
»Wenn du dich wie ein eigensinniges Mädchen benimmst, werde ich dich auch so behandeln«, bemerkte er mit zusammengebissenen Zähnen und bog sich nach hinten, um ihrem wild um sich stoßenden Kopf zu entgehen. Vara versuchte sich loszureißen.
»Ich hasse dich!«, keuchte sie.
»Im Augenblick hasse ich dich auch«, erwiderte er und verstärkte seinen Druck, »aber das kann sich geben.«
Endlich wurde ihr Ringen schwächer, und sie sank erschöpft in seinen Armen zusammen. »Du bist stärker«, stöhnte sie, »aber irgendwann musst du schlafen. Dann werde ich dich und danach mich töten.«
Auch Josua atmete schwer. Vara war kein schwaches Weib, und dass dem Prinzen eine Hand fehlte, machte den Kampf nicht leichter. »Wir sind auch so schon zu wenige«, murmelte er. »Doch im Notfall werde ich hier sitzen bleiben und dich festhalten, bis es Zeit zum Aufbruch ist. Wir gehen nach diesem Sesuad’ra, und ich werde dafür sorgen, dass wir alle es auch lebend erreichen.«
Wieder wollte Vara sich befreien, gab aber schnell auf, als sie merkte, dass Josua seinen Griff nicht gelockert hatte. Eine Zeitlang blieb sie still sitzen. Ihr Atem wurde allmählich ruhiger, das Zittern der Glieder ließ nach.
Die Schatten wurden länger. Eine einsame Grille, die das Nahen des Abends spürte, begann ihren knarrenden Vortrag. »Wenn du mich nur liebtest«, sagte Vara endlich und starrte in den langsam dunkler werdenden Wald, »brauchte ich niemanden zu töten.«
»Ich bin des Redens müde, Herrin«, antwortete der Prinz.
Am späten Vormittag verließen Prinzessin Miriamel und ihre beiden frommen Begleiter die Küstenstraße und ritten hinab in das Commeis-Tal, das Tor zur Stadt Nabban. Während sie den steilen Serpentinen hangabwärts folgten, fiel es Miriamel schwer, darauf zu achten, wohin das Pferd seine Hufe setzte. Es war lange her, dass sie das wahre Gesicht Nabbans, der Heimat ihrer Mutter, gesehen hatte, und die Versuchung, alles mit offenem Mund anzustarren, war ungemein groß.
Die Felder wichen hier allmählich den verstreuten Ausläufern der einst kaiserlichen Hauptstadt. Die Talsohle war voller Siedlungen und Städte; selbst die steilen commeianischen Berge waren überkrustet mit Häusern aus weißgetünchten Steinen, die aus den Hängen hervorragten wie Zähne.
Vom Talgrund stieg der Rauch zahlloser Feuer nach oben, eine graue Wolke, die über ihnen hing wie ein Sonnendach. An den meisten Tagen fegte der vom Meer kommende Wind den blauen Himmel blank, das wusste Miriamel; heute aber fehlte die Brise.
»So viele Menschen«, staunte sie. »Und in der Stadt sind es noch mehr.«
»Aber in mancher Hinsicht«, bemerkte Vater Dinivan, »will das gar nichts heißen. Erchester zum Beispiel ist nicht einmal ein Fünftel so groß wie Nabban, aber der Hochhorst ist das Haupt der
Weitere Kostenlose Bücher