Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Herz. Wenn ihre Mutter Elias nicht geheiratet hätte, wäre Miriamel hier aufgewachsen und hätte hier, hoch über der See, gelebt. Hier wäre ihre Heimat gewesen. Sie wäre an einen Ort zurückgekehrt, an den sie gehörte.
Aber wenn meine Mutter meinen Vater nicht geheiratet hätte, überlegte sie schläfrig, würde es mich ja gar nicht geben. Dummes Mädchen.
Ihre Ankunft am Tor des Lektorenpalastes nahm Miriamel nurverschwommen wahr. Sie konnte sich nur mühsam wach halten. Mehrere Männer begrüßten Dinivan mit großer Herzlichkeit – anscheinend hatte er viele Freunde –, und das Nächste, was sie wusste, war, dass man sie in ein Zimmer mit einem warmen, weichen Bett brachte. Sie vergeudete keine Zeit damit, etwas anderes auszuziehen als ihre Stiefel, und kroch, noch immer in ihren Kapuzenmantel gehüllt, unter die Decke. Im Gang vor ihrer Tür vernahm sie gedämpftes Stimmengemurmel, dann, etwas später, hoch über sich das Geläut der Claves-Glocke, die öfter schlug, als Miriamel zählen konnte.
Zu den Tönen ferner Gesänge schlief sie ein.
Am nächsten Morgen weckte sie Vater Dinivan mit Beeren, Milch und Brot. Sie aß im Bett sitzend, während der Priester die Kerzen anzündete und in dem fensterlosen Raum auf und ab marschierte.
»Seine Heiligkeit war heute früh auf. Als ich in seinen Gemächern erschien, war er schon fort, irgendwo spazieren. Das tut er oft, wenn er über etwas nachdenken will. Läuft einfach im Nachtgewand durch die Gänge! Dabei will er niemanden um sich haben – außer mir, wenn ich da bin.« Dinivan lachte wie ein kleiner Junge, und seine Zähne blitzten. »Diese Gebäude sind fast so unübersichtlich wie der Hochhorst. Er könnte überall stecken.«
Miriamel wischte sich mit dem weiten Ärmel die Milch vom Kinn. »Wird er uns empfangen?«
»Natürlich. Sowie er zurück ist, davon bin ich überzeugt. Ich möchte wissen, was ihm auf der Seele liegt. Ranessin ist ein Mann mit tiefen Gedanken, tief wie das Meer, und wie beim Meer ist es oft schwierig herauszufinden, was sich unter der ruhigen Oberfläche verbirgt.«
Miriamel überlief ein Schauder. Sie dachte an den Kilpa in der Bucht von Emettin. Sie setzte die Schale ab. »Soll ich in Männerkleidern kommen?«, fragte sie.
»Was?« Dinivan, von ihrer Frage überrascht, blieb stehen. »Oh. Für den Empfang beim Lektor, meint Ihr. Nun, ich denke, vorläufig sollte niemand wissen, dass Ihr hier seid. Ich möchte gern sagen, dass ich meinen Mitbrüdern mein Leben anvertrauen würde, undvermutlich wäre das auch der Fall, aber ich lebe und arbeite hier schon viel zu lange, als dass ich nicht wüsste, dass viel getuschelt wird. Ich habe Euch ein paar saubere Sachen mitgebracht.« Er deutete auf ein Kleiderbündel, das auf einem Hocker lag. Daneben stand eine dampfende Wasserschüssel. »Wenn Ihr also fertig seid und Euer Frühstück beendet habt, können wir gehen.« Er sah sie erwartungsvoll an.
Miriamel betrachtete einen Augenblick die Kleider, dann Vater Dinivan, der ein wenig zerstreut die Stirn runzelte. »Würdet Ihr Euch dann wohl umdrehen«, bat sie endlich, »damit ich mich anziehen kann?«
Vater Dinivan riss den Mund auf und errötete dann bis über beide Ohren, was Miriamel insgeheim äußerst amüsierte. »Prinzessin, vergebt mir! Wie konnte ich mich so unhöflich benehmen! Noch einmal, verzeiht! Ich werde mich sofort entfernen. Ich hole Euch dann nach einer Weile ab. Bitte nehmt meine Entschuldigungen an. Ich habe heute Morgen an so vieles zu denken.« Er hastete rückwärts aus dem Zimmer und schloss hinter sich sorgfältig die Tür.
Als er fort war, verließ Miriamel lachend das Bett. Sie streifte die alten Gewänder über den Kopf und wusch sich bibbernd, wobei sie mehr interessiert als bedauernd feststellte, wie sonnengebräunt Hände und Handgelenke aussahen. Wie bei einem Lastkahnschiffer, dachte sie nicht unzufrieden. Wie ihre Hofdamen bei diesem Anblick zusammenzucken würden!
Das Wasser war warm, aber der Raum kalt, sodass sie, kaum fertig, eilig die sauberen Sachen anzog. Sie fuhr sich mit den Händen durch das kurzgeschorene Haar und überlegte, ob sie es waschen sollte, entschied sich jedoch dagegen, als ihr die zugigen Korridore einfielen. Die Kälte erinnerte sie an Simon, der jetzt irgendwo im eisigen Norden herumirrte. In einem impulsiven Moment hatte sie ihm ihren blauen Lieblingsschal gegeben, ein Gunstbeweis, der ihr heute erbärmlich unzureichend erschien. Immerhin hatte sie es gut gemeint.
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