Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
erklärte er endlich. Müde und verängstigt, wie sie waren, und trotz der späten Stunde hatten die Mägde es schwer, sich ein Lächeln zu verbeißen. Erstaunlicherweise schien Rachel aber gar nicht wütend zu sein.
»Ja, ich bin Rachel«, bestätigte sie. »Wo bist du nun wirklich gewesen, Junge? Wir haben gehört, du seist ausgerissen.«
»Ihr habt mich für Simon gehalten«, sagte Jeremias verwundert und sah sich im Zimmer um. »Er war mein Freund – aber er ist doch tot, oder nicht? Bin ich auch tot?«
»Du bist nicht tot. Was ist passiert?« Rachel beugte sich vor, um Jeremias das wirre Haar aus den Augen zu streichen. Eine Sekundelag ihre Hand an seiner Wange. »Jetzt bist du in Sicherheit. Erzähl uns alles.«
Es schien, als wolle er wieder einschlafen, aber dann schlug er erneut die Augen auf. Er sprach jetzt deutlicher als vorher. »Ich wollte wirklich ausreißen«, sagte er. »Als die Soldaten des Königs meinen Meister Jakob verprügelten und zum Tor hinausjagten, wollte ich in der Nacht wegrennen. Aber die Wachen erwischten mich. Sie übergaben mich Inch.«
Rachels Gesicht wurde finster. »Diesem Tier.«
Jeremias riss die Augen auf. »Er ist schlimmer als jedes Tier. Er ist ein Teufel. Er sagte, ich sollte sein Lehrling sein, unten bei den Hochöfen … in den Schmieden. Er hält sich für den König dort unten.« Das Gesicht des Jungen verzog sich, und er brach jäh in Tränen aus. »Er sagt … er sagt, er wäre jetzt Doktor Inch. Er hat mich geschlagen und … und missbraucht.«
Rachel tupfte ihm mit ihrem Tuch die Wangen ab. Die Mädchen schlugen das Zeichen des Baumes.
Jeremias’ Schluchzen wurde leiser. »Es ist der allerschlimmste Ort auf der Welt … dort unten.«
»Du hast etwas gesagt, Junge«, mahnte Rachel mit fester Stimme. »Etwas über den Ratgeber des Königs … und Simon. Sag es noch einmal.«
Der Junge schlug groß die verweinten Augen auf. »Pryrates hat sie umgebracht. Simon und Morgenes. Der Priester ist mit Soldaten hingegangen. Morgenes hat gegen sie gekämpft, aber das Zimmer geriet in Brand, und Simon und der Doktor starben.«
»Und woher willst du das wissen?«, fragte Rachel ein wenig grob. »Wie kann einer wie du so etwas wissen?«
»Pryrates hat es selbst gesagt. Er kommt oft nach unten zu Inch. Manchmal prahlt er nur herum, wie mit dem Tod von Morgenes. Manchmal hilft er Inch auch dabei … Leuten … w-weh zu tun.« Jeremias konnte kaum weitersprechen. »Manchmal… m-manchmal nimmt der Priester auch jemanden mit … nimmt sie mit, w-wenn er w-weggeht … Die kommen dann nicht w-wieder …« Er rang nach Atem. »Und noch andere … Dinge. Da unten sind noch andere … Dinge. Schreckliche Dinge. O Gott, bitte schickt mich nichtzurück.« Er umklammerte Rachels Handgelenk. »Bitte versteckt mich!«
Rachel versuchte ihr Entsetzen nicht zu zeigen. Absichtlich verdrängte sie die Bilder von Simon und diese neuen Enthüllungen aus ihren Gedanken, bis sie Zeit haben würde, allein und in Ruhe darüber nachzudenken. Aber trotz ihrer tapferen Selbstbeherrschung wuchs in Rachel ein kalter Hass, Hass, wie sie ihn nie zuvor empfunden hatte.
»Wir lassen nicht zu, dass sie dich holen«, versicherte sie, und ihr energischer Ton machte deutlich, dass jeder, der sich ihrem Willen widersetzte, das auf eigene, große Gefahr tat. »Wir werden dich … wir werden .. .« Sie verstummte einen Augenblick ratlos. Was sollten sie wirklich mit ihm anfangen? Hier im Dienstbotenquartier konnten sie den Jungen nicht lange verstecken, vor allem nicht, wenn er aus der Schmiede des Königs unter dem Hochhorst geflohen war.
»Was waren das für ›andere Dinge‹?«, fragte Jael mit verwirrten braunen Kalbsaugen.
»Genug davon«, versetzte Rachel scharf, aber Jeremias gab bereits Antwort.
»Ich w-weiß es nicht genau«, erklärte er. »Da sind … Schatten, die sich bewegen. Schatten ohne Menschen. Und Dinge, die da sind . .. und auf einmal nicht mehr da sind. Und Stimmen …« Er zitterte und starrte an der Kerzenflamme vorbei in die dunkle Ecke des Raums. »Stimmen, die weinen … und singen … und … und …« Wieder füllten sich seine Augen mit Tränen.
»Schluss damit!«, sagte Rachel streng, unzufrieden mit sich selbst, weil sie den Jungen so lange hatte reden lassen. Ihre Zöglinge warfen einander unruhige Blicke zu, wie verschreckte Schafe.
Elysia! , dachte sie, das hat mir gerade noch gefehlt – mir meine letzten Mädchen aus der Burg weggraulen zu lassen.
»Zu viel
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