Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
schräg einfallenden Regen zu schützen. »Zum Teil«, erwiderte sie, »war es wichtig?«
»Wichtig war nicht das Was der Auseinandersetzung, sondern das Wie. Diese Leute waren sämtlich aus Perdruin, wenn mich mein Ohr für Akzente nach so viel Meeresrauschen nicht täuscht. Aber gestritten haben sie sich in der Westerlingsprache.«
»Und?«
»Nun ja.« Cadrach kniff die Augen zusammen, als suche er etwas auf der überfüllten, von Laternen erhellten Gasse, redete dabei aber ständig weiter. »Ihr und ich, wir sprechen Westerling, aber mit Ausnahme Eurer erkynländischen Landsleute – und von ihnen auchnicht alle – spricht niemand diese Sprache zu Hause unter seinesgleichen. Die Rimmersmänner in Elvritshalla gebrauchen die Rimmerspakk; wir Hernystiri reden in Crannhyr oder Hernysadharc in unserer eigenen Zunge. Nur die Perdruineser haben die Staatssprache Eures Großvaters König Johan angenommen, und für sie ist sie jetzt wirklich die Hauptsprache.«
Miriamel blieb mitten auf der regennassen Straße stehen, sodass die feiernde Menge sich wie bei einem Wirbel im Fluss an ihr vorbeidrängen musste. Tausend Öllampen ließen eine falsche Morgendämmerung über den Giebeln der Häuser aufsteigen. »Ich bin müde und hungrig, Bruder Cadrach, und ich verstehe nicht, worauf Ihr hinauswollt.«
»Ganz einfach. Die Perdruineser sind, wie sie sind, weil sie anderen gefallen wollen – oder, um es deutlicher zu sagen, sie wissen, wohin der Wind weht, und folgen dieser Richtung, damit sie ihn immer im Rücken haben. Wären wir Hernystiri ein Volk von Eroberern, dann würden die Kaufleute und Seefahrer von Perdruin ihr Hernystiri aufpolieren. ›Wenn ein König Appetit auf einen Apfel hat‹, sagen die Nabbanai, ›pflanzt Perdruin Obstgärten.‹ Töricht wäre es von jedem anderen Volk, einen so willigen Freund und hilfreichen Verbündeten anzugreifen.«
»Das heißt, Ihr meint, dass die Seelen dieser Perdruineser käuflich sind?«, wollte Miriamel wissen. »Dass sie nur dem Starken treu sind?« Cadrach lächelte. »Das klingt verächtlich, Herrin, gibt aber sehr präzise wieder, was ich meine, ja.«
»Dann sind sie nicht besser«, sie blickte sich vorsichtig um und kämpfte gegen ihre Wut, »… nicht besser als Huren!«
Das wettergegerbte Gesicht des Mönchs nahm einen kühlen, abweisenden Ausdruck an; sein Lächeln war nur noch eine reine Formalität. »Nicht jeder kann sich hinstellen und den Helden spielen, Prinzessin«, antwortete er ruhig. »Manche ziehen es vor, sich ins Unvermeidliche zu fügen und ihr Gewissen mit dem Geschenk des Überlebens zu beruhigen.«
Als sie weitergingen, dachte Miriamel über die offenkundige Wahrheit in Cadrachs Worten nach und konnte nicht begreifen, warum diese Wahrheit sie so unaussprechlich traurig stimmte.Die kopfsteingepflasterten Gassen von Ansis Pelippé waren nicht nur eng und verwinkelt, sondern kletterten vielfach auch über ausgehauene Steinstufen steil am Berghang hinauf, um dann in zahlreichen Windungen wieder nach unten zu führen, kreuz und quer und hin und her, ineinander verschlungen wie Schlangen in einem Korb. Zu beiden Seiten standen die Häuser dicht an dicht, die meisten mit verdunkelten Fenstern, Schläfer mit geschlossenen Augen, andere grell erleuchtet und voller Musik. Die Grundmauern der Häuser lehnten sich schräg über die Straßen, sodass ihre Obergeschosse sich über die verstopften Gassen zu neigen schienen. Miriamel, allmählich schwindlig vor Hunger und Erschöpfung, hatte manchmal das Gefühl, wieder unter den tief zur Erde gebeugten Bäumen des Waldes von Aldheorte umherzuwandern.
Perdruin bestand aus einer Gruppe kleinerer Erhebungen rund um Sta Mirore, den in der Mitte liegenden Gipfel. Fast übergangslos stiegen die krummen Buckel aus den felsigen Rändern der Insel empor und blickten hinaus auf die Bucht von Emettin. Perdruins Umriss erinnerte darum an ein Mutterschwein mit saugenden Ferkeln. Flaches Land gab es kaum, lediglich auf den Sätteln, wo sich die Schultern der hohen Berge berührten, sodass die Dörfer und Städtchen von Perdruin an den Hängen klebten wie Möwennester. Sogar Ansis Pelippé, der große Seehafen und Wohnsitz des Grafen Streáwe, war auf den steilen Abhängen eines Vorgebirges erbaut, das seine Bewohner Hafenstein nannten. An vielen Stellen konnten die Bürger von Ansis Pelippé auf einer der dicht an die Bergwand geschmiegten Straßen stehen und ihren Nachbarn auf der Gasse direkt darunter zuwinken.
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher