Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
als Farbwirbel erkennen. Am Tisch saß in einem hochlehnigen Sessel eine Gestalt, die ebenso seltsam anzuschauen war wie ihre Begleiter: ein hochgewachsener Mann im rostbraunen Mantel, auf dem Kopf eine Fuchsmaske mit scharfen Zügen.
Der Fuchs beugte sich vor und deutete mit einer anmutigen Geste seiner in Samt gehüllten Finger auf zwei Stühle.
»Nehmt Platz.« Die Stimme war dünn, aber melodisch. »Setzt Euch, Prinzessin Miriamel. Ich würde mich erheben, wenn meine verkrüppelten Beine es gestatteten.«
»Das ist doch Wahnsinn«, schnaubte Cadrach, wobei er wohlweislich das schädelgesichtige Gespenst neben sich nicht aus den Augen ließ. »Ihr irrt Euch, Herr – es ist ein Knabe, mit dem Ihr sprecht, mein Zögling …«
»Bitte.« Der Fuchs bat mit liebenswürdiger Handbewegung um Stillschweigen. »Es ist Zeit für uns, die Masken abzulegen. Geht so nicht stets die Mittsommernacht zu Ende?«
Er hob das Fuchsgesicht in die Höhe und enthüllte einen weißen Haarschopf und ein vor Alter runzliges Gesicht. Als seine unmaskierten Augen im Feuerschein glitzerten, verzogen sich die faltigen Lippen zu einem Lächeln. »Nachdem Ihr nun wisst, wer ich bin …«, begann er, aber Cadrach unterbrach ihn.
»Wir kennen Euch nicht, Herr, und Ihr müsst uns verwechselt haben!«
Der Alte lachte trocken. »Nun kommt schon. Ihr und ich sind uns vielleicht noch nicht begegnet, guter Mann, aber die Prinzessin und ich sind alte Freunde. Tatsächlich war sie sogar schon einmal mein Gast … vor sehr, sehr langer Zeit.«
»Ihr seid … Graf Streáwe?«, hauchte Miriamel.
»So ist es.« Der Graf nickte. Hinter ihm an der Wand drohte sein Schatten. Er lehnte sich zu ihr hinüber und ergriff mit seiner Samtklaue ihre nasse Hand. »Der Gebieter von Perdruin und von dem Moment an, als Ihr beide den Fuß auf den Felsen gesetzt habt, über den ich herrsche, auch der Eure.«
3
Eidbrecher
päter am Tag seiner Begegnung mit dem Hirten und der Jägerin, als die Sonne hoch am Himmel stand, fühlte Simon sich stark genug, ins Freie zu gehen und sich auf die Felsterrasse vor seiner Höhle zu setzen. Er wickelte sich einen Zipfel seiner Decke um die Schultern und stopfte den Rest der schweren Wolle als Kissen zwischen sich und die steinerne Haut des Berges. Mit Ausnahme des königlichen Lagers im Chidsik Ub Lingit schien es so etwas wie einen Stuhl in ganz Yiqanuc nicht zu geben.
Längst hatten die Hirten ihre Schafe aus den geschützten Tälern geführt, in denen sie schliefen, und sie auf Futtersuche die Berge hinuntergetrieben. Von Jiriki hatte Simon gehört, dass der hartnäckige Winter die jungen Triebe, von denen die Tiere sich sonst ernährten, fast völlig vernichtet hatte. Simon schaute einer der Herden zu, die sich tief unter ihm auf einem Hang zusammendrängte, winzig wie Ameisen. Ein dünnes, klickendes Geräusch drang zu ihm nach oben: Die Widder stießen das Gehörn gegeneinander und kämpften um die Herrschaft über die Herde.
Die Trollfrauen mit den schwarzhaarigen Kleinkindern, die sie in Beuteln aus feingesticktem Leder auf den Rücken geschnallt trugen, hatten schlanke Speere zur Hand genommen und waren auf die Jagd gegangen. Sie pirschten nach Murmeltieren und anderen Nagern, deren Fleisch das Hammelfleisch ergänzen sollte. Binabik hatte oft erzählt, der wahre Reichtum des Qanucvolkes bestehe in den Schafen und es würden nur diejenigen Tiere aus den Herden gegessen, die zu nichts anderem mehr taugten, die alt waren und unfruchtbar.
Murmeltiere, Kaninchen und anderes Kleinwild waren jedoch nicht der einzige Grund dafür, dass die Trollfrauen Speere trugen. Einer derPelze, in die sich Nunuuika so auffällig gehüllt hatte, war der eines Schneeleoparden gewesen; die dolchscharfen Krallen glänzten noch. Wenn er an die wilden Augen der Jägerin dachte, bezweifelte Simon nicht, dass Nunuuika diese Beute selbst erlegt hatte.
Aber nicht nur den Frauen drohte Gefahr; ebenso gefährlich war die Arbeit der Hirten, denn es gab viele große Raubtiere, vor denen die kostbaren Schafe geschützt werden mussten. Binabik hatte Simon einmal gesagt, dass die Wölfe und Leoparden zwar bedrohlich, jedoch kaum mit den Schneebären zu vergleichen seien, von denen die größten so schwer waren wie zwei Dutzend Trolle. So mancher Qanuchirte finde ein jähes und unangenehmes Ende zwischen den Klauen und Zähnen eines weißen Bären.
Simon unterdrückte ein fast körperliches Unbehagen bei dieser Vorstellung. Hatte er nicht dem
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