Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
sich das Gesicht des Mondes erst wenige Male gedreht, seit die Zwei Familien Venyha Do’sae verließen, das Land unserer Geburt jenseits der Großen See. Ach, Hakatri, hättest du doch unsere Schiffe sehen können, wie sie über die wilden Wellen dahinbrausten! Aus Silberholz waren sie gezimmert, mit Segeln aus buntem Tuch, mutig und schön wie fliegende Fische. Ein Kind war ich damals und saß am Bug, der die Wellen zerteilte, umgeben von einer Wolke aus schillerndem, funkelndem Meeresschaum! Und als unsere Schiffe den Boden dieses Landes berührten, weinten wir. Wir waren dem Schatten des Nicht-Seins entkommen und hatten den Weg in die Freiheit gefunden. Zumindest glaubten wir das. Stattdessen aber, Hakatri, fanden wir, dass wir in Wahrheit den Schatten nicht abgeschüttelt, sondern nur durch einen anderen ersetzt hatten – und dieser neue Schatten wuchs in uns selbst heran.
Es dauerte lange, bis wir es erkannten. Nur ganz langsam entstand der neue Schatten, zuerst in unseren Herzen, dann auch in Augen und Händen. Nun aber ist das Unheil, das von ihm ausgeht, größer geworden, als wir je hätten ahnen können. Über dieses ganze Land, das wir lieben, breitet er sich aus, über das Land, in das wir einst eilten wie in die Arme eines Geliebten – wie ein Sohn in die Arme der Mutter …
Unser neues Land ist so schattendunkel geworden wie das alte, Hakatri, und das ist unsere Schuld . Jetzt aber ist dein Bruder, den der Schatten zerstört hat, selbst zu einer noch schrecklicheren Finsternis geworden und wirft ein dunkles Tuch des Todes über alle, die er einst geliebt hat.
Ach, beim verschollenen Garten, hart ist es, seine Söhne zu verlieren!«
Da war etwas anderes, das seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehenversuchte, aber Simon konnte nur hilflos liegen bleiben, als wolle oder könne er nicht aufwachen. Ihm war, als riefe jemand außerhalb dieses Traums, der kein Traum war, seinen Namen. Hatte er Freunde oder Angehörige, die nach ihm suchten? Es kam nicht darauf an. Er konnte sich von der Frau nicht lösen. Ihre furchtbare Traurigkeit durchbohrte ihn wie ein angespitzter Stecken oder eine Topfscherbe; grausam wäre es gewesen, sie mit ihrem Leid alleinzulassen. Nach einer Weile verstummten die Stimmen, die leise nach ihm gerufen hatten.
Die Frau blieb in ihm. Sie schien zu weinen. Simon kannte sie nicht und konnte nicht erraten, zu wem sie gesprochen hatte, aber er weinte mit ihr.
Guthwulf war verwirrt und ärgerlich. Er saß da, polierte seinen Schild und bemühte sich, dem Bericht seines Kastellans zu folgen, der gerade von Guthwulfs Besitz in Utanyeat zu ihm auf den Hochhorst geritten war. Weder das eine noch das andere schien ihm zu gelingen.
Der Graf spuckte Citrilsaft auf die Bodenbinsen. »Sag es noch einmal, Mann. Ich verstehe kein einziges Wort.«
Der Kastellan, ein dickbäuchiger Kerl mit Frettchenaugen, unterdrückte mannhaft einen Seufzer der Erschöpfung – Guthwulf gehörte nicht zu den Dienstherren, vor denen man Anzeichen von Ungeduld erkennen ließ – und fing von neuem mit seiner Erklärung an.
»Es ist ganz einfach so, Herr. Eure Ländereien in Utanyeat sind so gut wie verödet. Wulfhorst ist bis auf einige wenige Diener menschenleer. Die Bauern sind fast alle fort. Es ist niemand da, um den Hafer oder die Gerste einzubringen, und wir können höchstens noch zwei Wochen mit der Ernte warten.«
»Meine Hörigen sind ausgerissen?« Guthwulf blickte zerstreut auf den Eber mit den Silberspeeren, die, eingelegt in Perlmutt, auf seinem schwarzen Schild funkelten. Einst hatte er dieses Wappen geliebt wie sein eigenes Kind. »Wie können sie es wagen, die Scholle zu verlassen? Wer anders als ich hat alle diese hässlichen Tölpeljahrelang durchgefüttert? Aber gut – dinge andere für die Ernte, aber lass die Geflohenen nicht wieder zurückkommen. Nie mehr.«
Jetzt gab der Kastellan doch einen winzigen Laut der Verzweiflung von sich. »Herr, Graf Guthwulf, ich fürchte, Ihr habt mir nicht zugehört. Es gibt in ganz Utanyeat nicht mehr genug Freie, die man dingen könnte. Die Barone, Eure Lehnsleute, haben ihre eigenen Sorgen und können kaum Arbeiter entbehren. Überall im Osten und Norden von Erkynland verwahrlosen die Felder, und niemand fährt die Ernte ein. Drüben am anderen Ufer des Flusses, in Hernystir, hat Skali von Kaldskrykes Heer schon die Grenzstädte am Rande von Utanyeat gemolken und wird wahrscheinlich schon bald den Fluss überqueren, weil Lluths Land ihm nichts mehr
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