Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
sterben wollte, aber kam esdarauf an? Anscheinend hatte er ohnehin keinen Einfluss auf sein Schicksal.
Aber ich will nicht hier sterben, entschied er schließlich und tat einen Augenblick so, als hätte jemand ihn vor eine Wahl gestellt. Er griff nach seiner eigenen Verzweiflung und begann, sie zurückzudrängen, sie zu besänftigen wie ein verängstigtes Pferd. Ich habe das Blut des Drachen berührt. Ich habe einen Weißen Pfeil der Sithi bekommen. Das muss doch einen Sinn haben?
Er wusste nicht, ob es wirklich einen Sinn hatte, aber plötzlich wollte er unbedingt am Leben bleiben.
Ich will noch nicht sterben. Ich will Binabik wiedersehen und Josua … und Miriamel. Und ich will dabei sein, wenn Pryrates und Elias für ihre Untaten bestraft werden. Ich möchte wieder ein Zuhause haben, ein warmes Bett – o barmherziger Usires, wenn es dich wirklich gibt, schenk mir wieder ein Zuhause! Lass mich nicht hier in der Kälte sterben! Lass mich ein Heim finden … ein Heim … lass mich ein Heim finden …!
Endlich siegte der Schlaf. Simon hörte das Echo seiner eigenen Stimme, als käme es aus der Tiefe eines alten steinernen Brunnens. Dann erst entglitt er den kalten und schmerzlichen Gedanken und fand einen wärmeren Ort.
Er überlebte die Nacht und sechs weitere Nächte, und jeder von ihnen folgte ein furchtbarer, eisigstarrer Morgen voller Einsamkeit und ständig wachsendem Hunger.
Die der Jahreszeit nicht gemäße Kälte hatte viele Kinder des Frühlings im Keim erstickt. Trotzdem hatten es einige wenige Pflanzen geschafft, in der kurzen, trügerisch warmen Periode, bevor der tödliche Winter wiederkehrte und blieb, zu knospen und zu blühen. Sowohl bei Binabik als auch bei den Sithi hatte Simon Blumen zu essen bekommen, aber er hatte keine Ahnung, ob es Unterschiede zwischen ihnen gab. Die paar, die er finden konnte, verzehrte er. Sie sättigten ihn nicht, aber sie brachten ihn auch nicht um. Unter manchen Schneehügeln gab es auch Stellen mit bitterem, gelbem Gras – sehr bitterem Gras –, und er griff nach allem, was er finden konnte. Einmal, in einem Augenblick heißhungriger Unvernunft, versuchte er es sogar mit einer Handvoll Fichtennadeln. Sie schmeckten erstaunlichwiderwärtig, und ihr Saft und seine eigene Spucke verwandelten seinen Flaumbart in eine klebrige, halb gefrorene Unappetitlichkeit.
An einem Tag, als seine Gier nach fester Nahrung schon zur Besessenheit geworden war, kreuzte ein von der Kälte verwirrter Käfer seinen Weg. Rachel der Drache hatte sehr entschiedene Ansichten über den schier unaussprechlichen Schmutz gehabt, der solchem Ungeziefer anhaftete, aber Simons Magen war eine weit mächtigere Triebkraft geworden als Rachels Erziehung. Er konnte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Trotz des Lochs in seinen Eingeweiden fiel ihm der erste Käfer schwer. Als er fühlte, wie sich die kleinen Beinchen in seinem Mund bewegten, würgte er und spuckte das Insekt wieder in den Schnee. Das sinnlose Strampeln des Tiers brachte Simon fast dazu, sich zu übergeben, aber gleich darauf schnappte er es von neuem und zerkaute und verschluckte es, so schnell er nur konnte. Der Körper des Käfers hatte die Konsistenz einer nicht völlig harten Nuss, und er schmeckte ein wenig modrig. Als eine Stunde vergangen war, ohne dass eine von Rachels unheilvollen Vorhersagen eintraf, fing Simon an, den Boden sorgsam nach weiteren langsam dahinkriechenden Bissen abzusuchen.
Schlimmer als sein ständiger Hunger war in mancher Beziehung die anhaltende Kälte. Wenn er eine Handvoll Lautengras fand und hinunterschlang, wurde der Hunger für eine kleine Weile geringer, und wenn er morgens die erste Stunde marschiert war, hörten seine Muskeln für kurze Zeit auf wehzutun … aber von dem Augenblick an, als er zum allerersten Mal in sein Bett im Wald gekrochen war, hatte er sich nie wieder warm gefühlt. Hörte er nur wenige Sekunden auf, sich zu bewegen, begann er unwillkürlich zu schlottern. Die Kälte war so gnadenlos, dass man glauben konnte, sie verfolge ihn wie einen persönlichen Feind. Er verfluchte sie mit bald versagender Kraft und fuchtelte mit den Armen, als sei diese eisige Bosheit etwas, auf das man einschlagen konnte, wie er auf den Drachen Igjarjuk eingeschlagen hatte. Aber die Kälte war überall und nirgends. Sie hatte kein schwarzes Blut, das man vergießen konnte.Simon blieb nichts anderes übrig, als weiterzulaufen. Deshalb trottete er vom frühen Morgen an, wenn ihn seine
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