Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
verkrampften Glieder vom notdürftigen Lager zwangen, bis zu der Stunde, in der sich die Sonne endlich vom klatschnassen grauen Himmel zurückzog. Dabei bewegte er sich fast ununterbrochen nach Süden. Der Rhythmus seiner schlurfenden Füße wurde ein Teil seines Lebenskreislaufs wie das An- und Abschwellen des Windes, der Gang der Sonne, das Fallen der Schneeflocken. Er lief, weil es ihn warm hielt; er hielt sich südwärts, weil er sich dunkel erinnerte, dass Binabik erwähnt hatte, der Stein des Abschieds stehe im Grasland südlich des Aldheorte. Er wusste, dass es ihm nie gelingen würde, den ganzen Wald zu durchqueren, dieses gewaltige Land voller Bäume und Schnee. Aber er brauchte ein Ziel. Auch fiel ihm das endlose Traben leichter, wenn er darauf achten musste, dass die verschleierte Sonne von seiner linken zur rechten Seite glitt.
Vor allem aber wanderte Simon, weil er gar keine andere Wahl hatte. Wenn er sich nicht mehr bewegte, musste er sterben – und zum Sterben war er noch nicht bereit.
Käfer, komm, sei fromm,
lauf nicht fort, bleib am Ort,
schmeck schlecht, mir recht,
wehr dich nicht, Leibgericht,
bleib hier, komm zu mir …
Es war am späten Vormittag des siebten Tages seit seinem Erwachen im Schnee. Simon befand sich auf der Pirsch. Ein braun und grau gefleckter Käfer – größer und vermutlich saftiger als die kleine, schwarze Sorte, die zum Grundbestandteil seiner Ernährung geworden war – suchte sich am Stamm einer Weißzeder seinen Weg. Simon hatte schon etwa zwanzig Ellen früher nach ihm gegriffen, aber der Käfer besaß Flügel – eindeutig ein Beweis dafür, dass er schmecken musste, weil es ihn so viel Mühe kostete, ungefressen zu bleiben – und war auf äußerst unhöfliche Weise davongebrummt. Weit war er nicht geflogen, aber auch ein zweiter Versuch Simonshatte keinen Erfolg gebracht und das Tier nur auf diesen neuen Landeplatz gescheucht.
Simon sang vor sich hin und wusste dabei nicht, ob er laut oder nur im Kopf sang. Dem Käfer schien es nichts auszumachen, also fuhr Simon mit seinem Liedchen fort.
Käfer, schlaf, bleib brav,
trau dem Wort, flieg nicht fort,
sitze still, wie ich will,
Käfer, steh, durch den Schnee
weiß und schwer komm ich her …
Simon, die Augen schmal zusammengekniffen wie ein Jäger, bewegte sich so langsam, wie sein zitternder, unterernährter Körper es zuließ. Er wollte diesen Käfer haben. Er musste ihn haben. Er merkte, wie ihn von neuem ein Anfall von Schüttelfrost überkam, ein Schlottern, das seine ganze vorsichtige Annäherung vereiteln würde. Er machte einen Satz. Gierig klatschten seine Handflächen gegen die Borke, aber als er die hohlen Hände ans Gesicht führte und hineinspähte, erkannte er, dass sie leer waren.
»Wozu brauchst du das?«, fragte jemand. Simon, der in den letzten Tagen wiederholt Gespräche mit fremden Stimmen geführt hatte, wollte schon den Mund öffnen und antworten, als ihm das Herz in der Brust plötzlich wild zu pochen begann. Er fuhr herum, konnte aber niemanden sehen.
Jetzt geht es los … ich werde verrückt … Das war alles, was er noch denken konnte, bevor etwas seine Schulter berührte. Wieder schoss er herum und wäre dabei fast umgekippt.
»Hier. Ich habe es gefangen.« Vor ihm in der Luft schwebte merkwürdig leblos der Käfer. Gleich darauf sah Simon, dass er zwischen den Fingern einer Hand hing, die in weißen Handschuhen steckte. Der Besitzer der Hand trat hinter der Zeder hervor. »Ich weiß allerdings nicht, was du damit vorhast. Isst dein Volk diese Tiere ? Davon habe ich noch nie gehört.«
Für einen Augenblick dachte Simon, Jiriki wäre gekommen – das Gesicht mit den goldenen Augen, umrahmt von einer Wolke blassenLavendelhaars, Jirikis ganz persönlicher, ungewöhnlicher Farbe, zu beiden Seiten der schrägen Wangenknochen Zöpfe mit eingeflochtenen Federn –, aber nach einem langen Blick aus weit aufgerissenen Augen begriff er, dass das jemand anders war.
Das Gesicht des Fremden war sehr schmal, aber trotzdem ein wenig runder als Jirikis. Wie bei dem Prinzen führte auch bei diesem Sitha der fremdartige Bau seines Körpers dazu, dass seine Züge manchmal kalt, fast grausam oder sogar ein wenig tierhaft wirkten, immer aber eigenartig schön. Der Sitha schien jünger und offenherziger zu sein als Jiriki. Ihr Gesicht – Simon hatte soeben bemerkt, dass es sich um ein weibliches Wesen handeln musste – wechselte rasch den Ausdruck, als er sie anstarrte, so als vertauschte sie
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