Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Blättern und die Richtung, in die bestimmte Baumwurzeln keimten, wenn sie in fließendem Wasser lagen, mit einbezogen. Aber während Binabik das alles beschrieb, hatte Simon eine dreibeinige Eidechse beobachtet, die langsam über den Waldboden desAldheorte humpelte. Ein Jammer, dass Binabik sich nicht bemüht hatte, seine Lektionen etwas fesselnder zu gestalten, dachte Simon, aber jetzt ließ es sich nicht mehr ändern.
Er stapfte durch den immer dichter fallenden Schnee. Hinter den Wolken beinahe unsichtbar stieg die Sonne immer höher. Der kurze Nachmittag kam und verabschiedete sich fast sofort. Der Wind wehte, und der Sturm packte den Aldheorte mit frostigen Fingern an der Kehle und drückte zu. Die Kälte suchte sich einen Weg durch Simons Mantel, der ihm allmählich so dünn vorkam wie sommerliche Damenschleier. Solange Simon mit seinen Freunden zusammen gewesen war, hatte ihm der Mantel völlig gereicht; jetzt konnte er sich, wenn er recht darüber nachdachte, nicht mehr erinnern, wann es ihm zum letzten Mal richtig warm gewesen war.
Als der Tag länger wurde und er weiterhin durch den Schnee marschierte, bekam Simon Magenschmerzen. Seine letzte Mahlzeit hatte er bei Skodi eingenommen – die Erinnerung an dieses Essen und das, was danach gekommen war, ließ ihn noch einmal von Kopf bis Fuß erzittern, obwohl der Wind ihn schon so oft hatte schaudern lassen, dass er kaum noch die Kraft zu solchen Anfällen von Schüttelfrost hatte. Wie lange lag diese Mahlzeit wohl schon zurück?
Heiliger Ädon, betete er, gib mir zu essen. Der Gedanke wurde zu einer Art Mantra, das zum Takt seiner knirschenden Stiefel unablässig in seinem Kopf dröhnte.
Leider konnte man das Problem nicht dadurch verdrängen, dass man sich auf etwas anderes konzentrierte. Auch stand es noch lange nicht so schlimm, wie es werden konnte: Simon wusste, dass er sich nicht noch mehr verirren würde, als es schon der Fall war; aber er konnte noch viel, viel hungriger werden.
Während seiner Zeit mit Binabik und den Soldaten hatte er sich daran gewöhnt, dass andere das Jagen und Sammeln erledigten; wenn er dabei geholfen hatte, dann zumeist nach ihren Anweisungen. Plötzlich fand er sich so allein wie an jenen schrecklichen ersten Tagen im Wald von Aldheorte, nachdem er aus dem Hochhorst geflohen war. Damals hatte er grausamen Hunger gelitten und trotzdem überlebt, bis der Troll ihn entdeckte. Aber das war auch nicht zur Winterszeit gewesen, und er hatte von abgelegenen Höfen etwasstehlen können. Jetzt streifte er in einer erstarrten und unbewohnten Wildnis umher, verglichen mit der ihm sein damaliger Aufenthalt im Wald wie der reinste Nachmittagsspaziergang vorkam.
Die Sturmwinde heulten jetzt lauter. Selbst die Luft schien plötzlich kälter zu werden, und Simon fing von neuem an zu schlottern. Ganz sacht färbte der Wald sich dunkler, eine Warnung, dass selbst das matte Licht dieses Tages nicht ewig anhalten würde. Simon kämpfte gegen eine wachsende Angst an. Den ganzen Tag hatte er sich bemüht, das Kratzen ihrer Krallen zu ignorieren, und manchmal das Gefühl gehabt, am Rande eines Abgrunds zu wandeln, einer bodenlosen Grube.
Ihm war klar, dass man unter solchen Umständen sehr leicht den Verstand verlieren konnte. Nicht dass man plötzlich in Raserei verfiel und mit den Armen fuchtelte wie ein Bettler, der in Erchester in der Schenkengasse herumtobte; nein, man versank ganz sacht in stillen Wahn. Er würde, ohne es überhaupt zu merken, irgendeinen Fehltritt tun und langsam und hilflos in den Abgrund taumeln, der, daran gab es keinen Zweifel, unmittelbar neben ihm wartete. Er würde fallen und fallen, bis ihm nicht einmal mehr bewusst sein würde, dass er fiel. Sein wirkliches Leben, seine Erinnerungen, Freunde und Heimat, die er einmal besessen hatte, das alles würde immer mehr verblassen, bis nichts mehr übrigblieb als uraltes, verstaubtes Gerümpel in einem Kopf, der einer vernagelten Hütte glich.
War es so, wenn man starb? , fragte er sich plötzlich. Blieb ein Teil des Menschen in seinem Körper, wie in Skodis grässlichem Lied? Lag man in der Erde und spürte, wie einem nach und nach die Gedanken entglitten wie eine Sandbank, die vom Fließen der Strömung allmählich aufgelöst und fortgeschwemmt wird? Und wäre das, wenn man es sich genau überlegte, wirklich so schlimm – im Feuchten und Dunklen zu liegen und einfach langsam aufzuhören zu sein? Wäre es nicht besser als die hektische Betriebsamkeit der Lebenden,
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