Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Gelassenheit etwas höchst Gefährliches – gefährlich zumindest für unerfahrene junge Sterbliche.
»Du musst dich verbeugen, Seoman«, flüsterte Jiriki ihm zu. Simon, nicht zuletzt wegen seiner schlotternden Beine, sank in die Knie. Der kräftige Geruch des warmen Rasens drang ihm in die Nase.
»Seoman Schneelocke, Menschenkind«, verkündete Jiriki mit lauter Stimme, »wisse, dass du vor Shima’onari stehst, König der Zida’ya, Herr von Jao é-Tinukai’i, und vor Likimeya, Königin der Dämmerungskinder, Herrin des Hauses der Tanzenden Jahre.«
Simon, noch immer kniend, blickte unsicher auf. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als sei er ein ganz besonders unpassendes Geschenk. Endlich sagte Shima’onari etwas zu Jiriki, und die Worte klangen rauher als alles, was Simon bisher in der sanften Sithisprache gehört hatte.
»Nein, Vater«, erwiderte Jiriki. »Ganz gleich, was geschieht, wir dürfen unsere alten Bräuche nicht so einfach missachten. Ein Gast ist ein Gast. Ich bitte Euch, sprecht Worte, die Seoman verstehen kann.«
Shima’onaris schmales Gesicht verzog sich, und er runzelte die Stirn. Als er endlich sprach, zeigte sich, dass ihm die Westerlingsprache wesentlich schwerer fiel als seinem Sohn und seiner Tochter.
»Nun denn. Du bist das Menschenkind, das Jirikis Leben gerettet hat.« Er nickte langsam, schien jedoch nicht besonders erfreut. »Ich weiß nicht, ob du das verstehst, aber mein Sohn hat etwas sehr Verwerfliches getan. Er hat dich gegen alle Gesetze unseres Volkes hierhergebracht – dich, einen Sterblichen.« Er richtete sich auf und ließden Blick über die Gesichter der Sithi in der Runde wandern. »Was geschehen ist, ist geschehen, o mein Volk, o meine Familie!«, rief er. »Nichts Böses darf diesem Menschenkind widerfahren; wir sind noch nicht so tief gesunken. Wir schulden ihm Ehre als Hikka Staja, als Träger des Weißen Pfeils.« Er schaute erneut Simon an, und grenzenlose Traurigkeit verdunkelte sein Gesicht. »Aber du darfst diesen Ort nie wieder verlassen, Menschenkind. Wir dürfen dich nicht fortlassen. Du musst für immer hierbleiben. Du wirst mit uns zusammen alt werden und sterben, hier in Jao é-Tinukai’i.«
Eine Million Schmetterlingsflügel murmelten und wisperten.
»Bleiben?« Simon drehte sich verständnislos zu Jiriki um. Die sonst so unerschütterliche Miene des Prinzen war eine aschgraue Maske aus Kummer und Entsetzen.
Auf dem Rückweg zu Jirikis Haus sagte Simon kein Wort. Langsam tauchte der Nachmittag in die Dämmerung ein. Die Düfte und Töne eines makellosen Sommers füllten das sich abkühlende Tal.
Der Sitha versuchte nicht, das Schweigen zu brechen. Mit Nicken und sanften Berührungen führte er Simon über die verschlungenen Pfade. Als sie sich dem Fluss näherten, der an Jirikis Haustür vorüberfloss, erklangen weiter oben in den Hügeln Sithistimmen, die ein Lied sangen. Die Melodie, deren Echo sich über das Tal ergoss, bestand aus einer komplizierten Folge dahinfließender Akkorde, lieblich, aber mit dem Anflug einer Dissonanz, kaum zu bemerken, einem Fuchs vergleichbar, der durch verregnete Hecken huscht. Sehr schnell merkte Simon, dass sich die unsichtbaren Sänger in ihrer Harmonie dem Rauschen des Flusses anpassten.
Jetzt fiel eine Flöte ein und kräuselte die glatte Oberfläche der Musik wie Wind das Wasser. Jäh und schmerzhaft kam Simon zu Bewusstsein, wie fremd ihm dieser Ort war. Er fühlte sich unendlich einsam, und ihn quälte eine Leere, die weder von Jiriki noch von jemand anderem seiner fremdartigen Rasse ausgefüllt werden konnte. Bei all seiner Schönheit war Jao é-Tinukai’i nur ein Käfig, und Simon wusste, dass Tiere im Käfig dahinsiechten und bald starben.
»Was soll ich tun?«, fragte er hoffnungslos.
Jiriki starrte auf den glitzernden Fluss und lächelte traurig.»Spazieren gehen. Nachdenken. Shent spielen lernen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich in Jao é-Tinukai’i die Zeit zu vertreiben.«
Sie gingen zu Jirikis Haustür. Vom bewaldeten Hang plätscherte das Wasserlied und umgab sie mit klagender Musik, die ruhelos und zugleich gelassen klang, so geduldig wie der Fluss selbst.
23
Tiefe Wasser
ei der Mutter Elysia«, bemerkte Aspitis Preves, »was habt Ihr für schreckliche Dinge erlebt, Herrin Marya!« Der Graf hob den Becher und wollte trinken, fand das Gefäß jedoch leer. Er klopfte mit den Fingern auf das Tischtuch, und sofort eilte sein blasser Knappe herbei, um ihm neuen Wein einzuschenken.
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