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Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2

Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2

Titel: Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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gefangen sein, um des Daseins so müde zu sein wie ich.«
    Jiriki regte sich. »Wünscht Ihr, dass ich gehe, Erste Großmutter?«
    Seine Frage flößte Simon eine leise, bebende Furcht ein. Er spürte die große Güte und den tiefen Schmerz der Sitha – aber sie war so ungeheuer stark! Er wusste, wenn sie nur wollte, konnte sie ihn für immer an diesem Ort festhalten, nur mit der Macht ihrer Stimme und den zwingenden, labyrinthischen Augen.
    »Soll ich gehen?«, wiederholte Jiriki.
    »Ich weiß, dass es dir wehtut, wenn ich so rede, Weidengerte«, antwortete Amerasu. »Aber du bist mir von allen meinen Kindeskinderndas liebste, und du bist stark. Du kannst die Wahrheit ertragen.« Sie bewegte sich langsam in ihrem Sessel. Die langfingrige Hand sank auf die Brust ihres weißen Gewandes. »Auch du, Menschenkind, weißt, was Tod bedeutet. Es steht in deinem Gesicht. Aber obwohl jeder Tod etwas Schwerwiegendes ist, kommen und gehen Leben und Tod der Sterblichen so schnell wie die Blätter im Wandel der Jahreszeiten. Ich möchte nicht grausam sein. Ich will auch kein Mitleid. Aber weder du noch ein anderer Sterblicher hat erlebt, wie die dürren Jahrhunderte vorüberrollen, die hungrigen Jahrtausende vorbeiziehen, hat gesehen, wie die Welt Licht und Farbe verliert, bis nichts mehr übrigbleibt als verdorrte Erinnerungen.« Merkwürdigerweise schien, während sie sprach, ihr Gesicht sich zu verjüngen, als sei der Kummer das, was am lebendigsten in ihr war. Simon sah nun noch deutlicher, wie wunderschön sie einst gewesen sein musste. Er senkte den Kopf. Sprechen konnte er nicht.
    »Nein, natürlich nicht«, fuhr sie fort, und ihre Stimme zitterte ganz leicht. »Aber ich habe das alles erlebt. Darum sitze ich hier im Dunkeln. Es ist nicht, weil ich das Licht fürchte oder nicht stark genug bin, die Helligkeit des Tages zu ertragen.« Sie lachte, ein Laut wie der klagende Ruf eines Käuzchens. »Nein, der Grund ist, dass ich in der tiefen Dunkelheit die verschollenen Tage und Gesichter der Vergangenheit deutlicher vor mir sehe.«
    Simon blickte auf. »Ihr hattet zwei Söhne«, sagte er leise. Er wusste jetzt, warum ihm ihre Stimme so bekannt vorgekommen war. »Einer davon verließ Euch.«
    Amerasus Gesicht wurde hart. »Sie haben mich beide verlassen. Was hast du ihm erzählt, Jiriki? Das sind keine Geschichten für die kleinen Herzen der Sterblichen.«
    »Ich habe ihm nichts erzählt, Erste Großmutter.«
    Sie beugte sich vor. »Berichte mir von meinen Söhnen. Welche alten Legenden kennst du?«
    Simon schluckte. »Den einen Sohn verwundete ein Drache. Er musste gehen. Das Feuer verbrannte ihn – wie mich.« Er strich sich über die narbige Wange. »Der andere … der andere ist der Sturmkönig.« Als er diese letzten Worte flüsterte, sah er sich um, alskönnte aus dem tiefen Schatten jemand auf ihn zutreten. Aber nur die Wände knarrten, und das Wasser tropfte.
    »Woher weißt du das?«
    »Ich hörte Eure Stimme in einem Traum.« Simon suchte nach Worten. »Ich schlief, und Ihr spracht lange Zeit in meinem Kopf.«
    Das schöne Gesicht der Sitha war sehr ernst geworden. Sie starrte ihn an, als sei etwas Bedrohliches in ihm verborgen. »Fürchte dich nicht, Menschenkind«, sagte sie endlich und streckte die schmalen Hände nach ihm aus. »Fürchte dich nicht und vergib mir.«
    Ihre kühlen, trockenen Finger berührten Simons Gesicht. Die Lichter zuckten auf wie Blitze, flackerten und verloschen. Der Raum versank in völliger Finsternis. Amerasus Griff schien fester zu werden. Die Schwärze sang.
    Es tat nicht weh, aber irgendwie war Amerasu in seinem Kopf, eine gewaltige Macht, für einen Augenblick so eng mit ihm verbunden, dass er sich erschreckend, angsteinflößend nackt vorkam, weit stärker entblößt als durch rein körperliche Nacktheit. Amerasu spürte sein Entsetzen und beruhigte ihn, wiegte sein geheimes Selbst wie einen vor Angst panischen Vogel – so lange, bis er sich nicht mehr fürchtete. Dann begann sie vorsichtig, seine Erinnerungen zu durchsuchen. Mit sanfter, aber zielstrebiger Gründlichkeit erforschte sie, was in seinem Kopf war.
    Fetzen von Gedanken und Träumen schwirrten vorüber, wirbelten umher wie Blütenblätter im Sturm – Morgenes und seine unzähligen Bücher, die singende Miriamel, scheinbar sinnlose Bruchstücke von Gesprächen aus Simons Hochhorstzeit. Die Nacht auf dem Thisterborg und das furchtbare graue Schwert stoben ihm durch den Kopf, und nach ihnen Utuk’kus silbernes Gesicht

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