Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Wände, als stünden Simon und Jiriki im Bauch eines Schiffes – oder im Inneren eines Baumstammes, der größer sein musste als alle, die er bisher gesehen hatte. Er vernahm das langsame Plätschern von Wasser, als fielen die letzten Tropfen eines Gewitterregens von Weidenzweigen in einen Teich. Die dunklen Wände waren von schwer zu identifizierenden Gebilden gesäumt, die die Form von Menschen hatten; es mussten Statuen sein, jedenfalls bewegten sie sich nicht.
Noch während Simon, dessen Augen sich an das matte Licht noch nicht gewöhnt hatten, unsicher vor sich hin starrte, berührte etwas sein Bein. Er schrie auf und machte einen Satz, aber gleich darauf zeigten ihm die flackernden Lichter einen wehenden Schwanz, der nur einer Katze gehören konnte. Das Tier verschwand blitzschnell in der Dunkelheit zwischen den Wänden. Simon hielt den Atem an.
So wunderlich der Ort auch schien, fand Simon, es war nichts wirklich Furchterregendes an ihm. Das schattendunkle Zimmerstrahlte eine Wärme und heitere Gelassenheit aus, mit der sich nichts, das er bisher in Jao é-Tinukai’i gesehen hatte, vergleichen konnte. Judith, die rundliche Gebieterin der Hochhorstküchen, hätte es hier wohl gemütlich gefunden.
»Willkommen in meinem Haus«, sagte eine Stimme aus dem Dunkel. Die Lichtpünktchen um eine der Schattengestalten glühten heller und beleuchteten einen weißhaarigen Kopf und die Rückenlehne eines hohen Sessels. »Komm näher, Menschenkind. Ich sehe dich, aber du wirst mich wohl nicht sehen können.«
»Erste Großmutter hat sehr scharfe Augen.« Simon glaubte eine Spur von Belustigung aus der Stimme des Sitha herauszuhören. Er trat vor. Im goldenen Licht erkannte er das uralte und doch jugendliche Gesicht aus Jirikis Spiegel.
»Du stehst vor Amerasu y’Senditu no’e-Sa’onserei, der Schiffgeborenen«, verkündete hinter ihm Jiriki feierlich. »Erweise ihr Ehre, Seoman Schneelocke.«
Es fiel Simon nicht schwer. Er kniete mit unsicheren Beinen nieder und beugte den Kopf vor ihr.
»Steh auf, sterblicher Junge«, erklärte sie sanft. Ihre Stimme war tief und weich. Sie brachte eine Saite in Simons Erinnerung zum Klingen. Hatte ihre kurze Begegnung im Spiegel sich ihm so tief eingebrannt? »Hm«, murmelte sie. »Du bist noch höher gewachsen als selbst meine junge Weidengerte. Kannst du einen Schemel für das Menschenkind finden, Jiriki, damit ich nicht zu ihm aufschauen muss? Hole auch einen für dich.«
Als Simon neben Jiriki saß, musterte Amerasu ihn lange. Simon hatte das Gefühl, kein Wort herausbringen zu können, aber seine Neugier war fast ebenso groß wie seine Befangenheit. Während er sich nach Kräften bemühte, ihrem fast erschreckend eindringlichen Blick auszuweichen, betrachtete er sie seinerseits verstohlen aus dem Augenwinkel.
Sie sah im Wesentlichen so aus, wie er sie in Erinnerung hatte, mit schimmerndem weißem Haar und straffgespannter Haut über feinen Knochen. Abgesehen von der unergründlichen Tiefe ihrer Augen war das einzige Anzeichen des unermesslichen Alters, von dem Jiriki gesprochen hatte, die vorsichtige Behutsamkeit, mit der siejede Bewegung ausführte, als sei ihr Skelett brüchig wie trocken gewordenes Pergament. Trotzdem war sie wunderschön. Gefangen im Netz ihres Blickes konnte sich Simon gut vorstellen, dass Amerasu im Morgengrauen der Welt so schrecklich und zugleich so blendend herrlich anzuschauen gewesen war wie das Antlitz der Sonne selbst.
»So«, sagte sie, »du bist gestrandet, kleiner Fisch.«
Simon nickte.
»Gefällt dir dein Besuch in Jao é-Tinukai’i? Du bist einer der Ersten deiner Rasse, der zu uns kommt.«
Jiriki setzte sich gerader hin. »Einer der Ersten, weise Amerasu? Nicht der Erste?«
Sie achtete nicht auf ihn, sondern sah Simon weiterhin unverwandt an. Er fühlte sich sanft, aber unwiderstehlich in ihren Bann gezogen, wie ein sich windender Fisch, den man unbarmherzig an die blendende Oberfläche des Wassers zieht. »Sprich, Menschenkind. Was ist deine Meinung?«
»Ich … es ist mir eine Ehre, Euch besuchen zu dürfen«, brachte er endlich hervor und schluckte. Seine Kehle war wie ausgedörrt. »Eine Ehre. Aber … ich möchte nicht hier in diesem Tal bleiben. Nicht für immer.«
Amerasu lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Er spürte, wie der Bann sich lockerte, obwohl die Macht ihrer Gegenwart noch immer stark war. »Das überrascht mich nicht.« Sie holte tief Atem und lächelte traurig. »Aber du müsstest noch viel länger hier
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