Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
deshalb tat er doch nicht weniger weh. Ein längst vorausgesehener Schlag war endlich gefallen.
Verlassen zu werden, das schien der rote Faden zu sein, der sich durch ihr Leben zog. Ihre Mutter war gestorben, ihr Vater kalt und lieblos geworden; ihr Onkel Josua wollte sie nur aus dem Weg wissen – natürlich würde er das bestreiten, aber es war deutlich an jedem Wort und jeder Miene zu erkennen gewesen. Eine Weile hatte sie geglaubt, Dinivan und sein Gebieter, der Lektor, könnten ihr Schutz gewähren, aber sie waren umgekommen und hatten sie ohne Freunde zurückgelassen. Obwohl sie wusste, dass die beiden daran nicht die geringste Schuld traf, konnte sie es ihnen nicht vergeben. Niemand wollte ihr helfen. Die Freundlicheren, wie Simon, der Trolloder der gute alte Herzog Isgrimnur, waren weit fort oder selbst machtlos. Und nun hatte auch Cadrach sie verlassen.
Es musste etwas an ihr sein, das andere abstieß, sinnierte Miriamel. Irgendein dunkler Fleck, wie in den weißen Steinkanälen von Meremund, verborgen, bis die Ebbe kam. Oder vielleicht war der Fleck gar nicht an ihr, sondern in den Seelen der Menschen in ihrer Nähe, die keine Verantwortung anerkennen wollten, sich ihrer Pflichten gegenüber einer jungen Frau nicht erinnerten?
Und wie stand es mit Aspitis, dem goldenen Grafen? Sie hatte wenig Hoffnung, dass er sich als zuverlässiger erweisen würde als die anderen, aber wenigstens hatte er sie gern. Wenigstens wollte er sie.
Vielleicht konnte sie, wenn einmal alles vorbei war und ihr Vater die Welt nach seinen verderbten Wünschen umgestaltet hatte, doch irgendwo eine Heimat finden. In einem kleinen Haus am Meer würde sie glücklich sein und den ungeliebten königlichen Rang mit Vergnügen wie eine alte Schlangenhaut abstreifen. Aber was sollte sie bis dahin anfangen?
Miriamel rollte sich auf die Seite und presste das Gesicht in die rauhe Decke. Sie fühlte, wie ihr Bett und das ganze Schiff im sanften, aber beharrlichen Griff der See schwankten. Es war alles zu viel für sie, zu viele Gedanken, zu viele Fragen. Sie war schwach wie ein neugeborenes Kätzchen. Es verlangte sie danach, festgehalten und beschützt zu werden, damit die Zeit verging und sie irgendwann in einer besseren Welt wieder aufwachen konnte.
Sie weinte leise und mutlos. Ohne Halt glitt sie in den Schlaf.
Der Nachmittag glitt vorbei. Zwischen Träumen und Wachen lag Miriamel im Dunkel ihrer Kabine.
Irgendwo über ihr verkündete der Ausguck den Sonnenuntergang; kein anderes Geräusch außer dem Plätschern der Wellen und den gedämpften Schreien der Seevögel durchbrach die Stille. Das Schiff war so gut wie verlassen, die Matrosen befanden sich auf Landgang in Vinitta.
Miriamel war nicht überrascht, als die Kabinentür sich leise öffnete und sich jemand neben ihr auf dem Bett niederließ.
Aspitis’ Finger strichen über ihr Gesicht. Miriamel drehte sich weg und wünschte, sie könnte die Schatten über sich ziehen wie eineDecke, wünschte sich, wieder ein Kind zu sein und an einem Meer zu leben, das keine Kilpa kannte, einem Meer, dessen Wogen die Stürme nur sanft berührten, um sich beim goldenen Aufgang der Sonne sofort zurückzuziehen.
»Herrin …«, flüsterte er. »Ach, es tut mir so leid. Man hat Euch übel mitgespielt.«
Miriamel antwortete nicht, aber seine Stimme wirkte auf ihre schmerzlichen Gedanken wie lindernder Balsam. Er sprach weiter und erzählte ihr von ihrer Schönheit und Freundlichkeit. Für sie in ihrer fiebrigen Traurigkeit hatten die Worte kaum einen Sinn, aber seine Stimme klang sanft und tröstend. Sie fühlte sich beruhigt, besänftigt wie ein unruhiges Pferd. Als er zu ihr zwischen die Laken schlüpfte, spürte sie seine Haut an ihrer, warm und glatt und fest. Sie murmelte einen Protest, aber sanft, ohne wirkliche Energie; in gewisser Weise schien ihr auch das eine Freundlichkeit zu sein, die er ihr erwies.
Sein Mund lag an ihrem Hals. Gelassen und besitzergreifend strichen seine Finger über ihren Körper, als berühre er etwas Köstliches, das ihm ganz allein gehörte. Wieder flossen ihre Tränen. In ihrer tiefen Einsamkeit ließ sie zu, dass er sie in die Arme nahm. Während ein Teil von ihr sich nur danach sehnte, gehalten, in tröstlicher Wärme geborgen zu sein, in einem sicheren Hafen wie dem, in dem die Eadne-Wolke sacht am Anker schaukelte, unbekümmert um die Stürme, die über den weiten Ozean jagten, wollte ein anderer Teil sich losreißen und blindlings in die Gefahr
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