Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
nach den Maßstäben seines eigenen feinknochigen Volkes. Der Wranna gab es auf, an den Decken zu zerren; Ceallio gurgelte und murmelte in den Armen eines Traumes von vergangenem Glück. Tiamak zog die Stirn in Falten. Warum hatte er nur sein Haus im Banyanbaum verlassen, seinen geliebten, heimatlichen Sumpf? Es war nicht viel, aber es gehörte ihm. Und im Gegensatz zu diesem zugigen, feuchten Bootshaus war es dort immer warm gewesen …
Das hier war mehr als nur die Kälte der Nacht, erkannte er auf einmal, während sein Körper von neuem geschüttelt wurde. Es lag etwas Eisiges in der Luft, das ihm die Brust durchbohrte wie mit Dolchen. Er unternahm einen neuen, aussichtslosen Kampf um die Decken und setzte sich dann wieder verzweifelt auf. Vielleicht stand die Tür offen?
Er stieß ein lautes, qualvolles Stöhnen aus, kroch vom Lager herunter und zwang sich aufzustehen. Sein Bein pochte und brannte. Der betrunkene Heiler hatte ihm erklärt, seine Umschläge würdenschon bald den Schmerz von Tiamak nehmen, aber der Wranna hatte zu einem derart offensichtlichen Säufer wenig Zutrauen, und bisher hatte er mit seinen Zweifeln leider auch recht behalten. Langsam hinkte er über den rohen Holzboden und bemühte sich, nicht gegen die beiden umgedrehten Boote zu stoßen, die den größten Teil des Raumes einnahmen. Er drückte sich an der Wand entlang, und es gelang ihm so, diese großen Hindernisse zu umgehen, aber plötzlich sprang ihn ein harter Schemel an und traf grausam sein gesundes Schienbein. Tiamak musste einen Augenblick stehen bleiben und die Zähne zusammenbeißen, um einen Schrei zu ersticken, der vielleicht kein Ende haben würde. Er rieb sich das Bein. Warum musste ausgerechnet er und nur er immer so viel Pech haben?
Sobald er sich wieder bewegen konnte, setzte er noch vorsichtiger seinen Weg fort. Es schien Stunden zu dauern, bis er die Strecke bis zur Tür zurückgelegt hatte. Als er endlich ankam, entdeckte er zu seiner ungeheuren Enttäuschung, dass die Tür keineswegs offen stand. Das hieß, dass er kaum noch etwas unternehmen konnte, um einer schlaflosen und eiskalten Nacht zu entgehen. Vor lauter Wut schlug er mit der Hand gegen den Türrahmen. Die Tür schwang auf. Draußen wurde der leere Landungssteg sichtbar, ein unbestimmtes, graues Rechteck, auf das der Mond schien. Ein Schwall kalter Luft strömte auf Tiamak ein, aber noch bevor er den schwer zu findenden Griff fassen konnte, erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Verwirrt humpelte er ein paar Schritte ins Freie. An dem feinen Nebel, der im Mondlicht zu ihm herunterschwebte, war irgendetwas Merkwürdiges.
Ein langer Augenblick verstrich, bevor Tiamak klar wurde, dass es nicht Regen war, was da auf seine ausgestreckte Handfläche fiel, sondern es waren kleine, weiße Flocken. Er hatte so etwas noch nie gesehen – kein Wranna hatte das –, aber er war ungewöhnlich belesen und hatte in seiner Studentenzeit viel darüber gehört. Darum begriff er auch sofort die Bedeutung der flaumweichen Flocken und des Dampfes, der von seinen Lippen in die Nachtluft stieg und sich dort auflöste.
Schnee fiel auf Kwanitupul, mitten im Sommer.
Auch Miriamel lag im Dunkeln auf ihrem Bett. Sie hatte geweint, bis sie zum Weiterweinen zu müde war. Die Eadne-Wolke lag im Hafen von Vinitta vor Anker, und Miriamel fühlte, wie sich die Einsamkeit schwer über sie legte.
Der Grund dafür war weniger Cadrachs Verrat. Auch wenn sie ihm gegenüber gelegentlich schwach geworden war, hatte ihr der Mönch doch längst sein wahres Wesen gezeigt. Eher lag es daran, dass er für sie die letzte Verbindung zu ihrer wahren Identität und ihrer Vergangenheit dargestellt hatte. Als wäre ein Ankertau gekappt worden, war ihr auf einmal zumute, als treibe sie hilflos in einem Meer fremder Gesichter.
Dabei hatte sie Cadrachs Flucht noch nicht einmal völlig überrascht. Die Beziehung zwischen ihnen war längst so gespannt gewesen, dass ihn wohl nur die Umstände davon abgehalten hatten, sich schon früher abzusetzen. Sie erinnerte sich an die kühle Bedächtigkeit, mit der er nach seinem Reisemantel gegriffen hatte, ehe sie von Bord gingen, und verstand, dass er die Flucht geplant hatte, zumindest von dem Zeitpunkt an, als man sie eingeladen hatte, Vinitta zu besichtigen. Er hatte sogar in gewisser Weise versucht, sie zu warnen. Oben an Deck hatte er sie gebeten, auf ihn zu hören, und gesagt: »Ein letztes Mal.«
Nein, der Verrat des Mönches kam nicht unerwartet, aber
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