Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
plötzlich wieder Mut.
Jiriki zuckte die Achseln. »Ich glaube, ja – aber es steht mir nicht zu, über das Wie oder Wann zu entscheiden.«
»Es passiert zu viel«, murmelte Simon. »Und zu schnell.«
»Du musst fort von hier, mein Freund. Aditu pflegt meine Eltern; sie wird bald zurückkommen. Sie bringt dich dorthin, wo du deine Freunde findest. Und zwar möglichst schnell, denn es ist nicht ungewöhnlich, dass Shima’onari oder Likimeya ihre eigenen Verfügungen wieder aufheben. Darum geh jetzt. Meine Schwester wird dich in meinem Haus am Fluss abholen.« Jiriki beugte sich nach unten und hob etwas vom Moosboden auf. »Und vergiss nicht, deinen Spiegel mitzunehmen, mein Freund.« Er lächelte listig. »Vielleicht musst du noch einmal nach mir rufen; ich schulde dir noch immer ein Leben.«
Simon nahm das glänzende Ding und steckte es in die Tasche. Er zögerte einen Augenblick, bückte sich dann und umarmte Jiriki ganz vorsichtig, sorgsam bemüht, seine Verbrennungen nicht zu berühren. Der Sithiprinz streifte mit kühlen Lippen Simons Wange.
»Geh in Frieden, Seoman Schneelocke. Wir werden uns wiedersehen. Das ist ein Versprechen.«
»Lebt wohl, Jiriki.« Simon drehte sich um und stapfte hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Erst als er in dem gewundenen Gang, einem langen, sandfarbenen, im Wind flatternden Tunnel, der zur Tür führte, fast gestolpert wäre, verlangsamte er seinen Schritt.
Tief versunken in einen Strudel verwirrter Gedanken, bemerkte er draußen plötzlich, wie ungewöhnlich kalt ihm war. Er schaute auf.Der sommerliche Himmel über Jao é-Tinukai’i war wolkenverhangen und dunkel. Der Wind war kühler, als er ihn hier je erlebt hatte.
Der Sommer vergeht, dachte er. Ich fürchte, sie werden ihn nie wiedersehen.
Mit einem Schlag verschwand sein ganzer kleinlicher Zorn auf die Sithi, und tiefe, aufrichtige Sorge um sie erfüllte sein Herz. Was immer sonst dieser Ort auch war, hier gab es Schönheit, wie man sie nicht mehr erblickt hatte, seit die Welt jung war, jahrtausendelang geschützt vor dem tödlichen Frost der Vergänglichkeit. Nun hatte ein scharfer Winterwind die Mauern eingerissen. Vieles Kostbare würde unwiederbringlich zerstört werden.
Am Flussufer entlang lief er eilig zu Jirikis Haus.
Der Rückweg aus Jao é-Tinukai’i kam Simon so unwirklich vor wie ein Traum. Aditu sang diesmal in ihrer eigenen Sprache, und Simon hielt ihre Hand fest, während um sie herum der Wald schimmerte und sich veränderte. Sie ließen den kühlen graublauen Himmel hinter sich und landeten mitten im Rachen des Winters, der auf sie gelauert hatte wie ein Raubtier auf der Jagd.
Schnee bedeckte den Waldboden so dicht und kalt, dass Simon kaum noch glauben konnte, dass Jao é-Tinukai’i frei davon war, dass es noch einen Ort gab, den der Winter nicht bezwungen hatte; hier, außerhalb des Zauberkreises der Zida’ya, war die Bedrohung des Sturmkönigs um vieles greifbarer. Aber inzwischen war selbst der Zauberkreis zerbrochen worden. Mitten im Herzen des Sommers war Blut vergossen worden.
Sie gingen den ganzen Morgen und frühen Nachmittag. Nach und nach verließen sie den dichtesten Teil des Waldes und näherten sich seinem Rand. Aditu antwortete auf Simons wenige Fragen, aber keiner der beiden war zu längeren Gesprächen fähig, als hätte die grausame Kälte die Zuneigung, die sie einander einmal entgegengebracht hatten, erstarren lassen. Auch wenn es ihm in ihrer Gegenwart oft nicht recht geheuer gewesen war, wurde Simon traurig. Aber die Welt hatte sich gewandelt, und er hatte nicht mehr die Kraft, dagegen anzukämpfen. Wie im Traum wanderte er durch den Winterwald und dachte an gar nichts.
Ein paar Stunden folgten sie einem lebhaft dahinplätschernden Fluss und kamen endlich an einen sanft abfallenden Hang. Vor ihnen lag eine ausgedehnte Wasserfläche, grau und geheimnisvoll wie der Mörser eines Alchimisten. Ein dunkler, baumbedeckter Hügel ragte daraus hervor wie ein schwarzer Stößel.
»Dort ist dein Ziel, Seoman«, sagte Aditu unvermittelt. »Das ist Se suad’ra.«
»Der Abschiedsstein?«
Aditu nickte. »Der Stein des Lebewohlsagens.«
Simon kam es vor, als gleite er von einem Traum in den anderen, als er sein Ziel, das so lange nur eine unbestimmte Vorstellung gewesen war, wirklich vor sich sah. »Aber wie komme ich dorthin? Soll ich schwimmen?«
Aditu antwortete nicht, sondern führte ihn den Hang hinunter zu einer Stelle, an der sich der Fluss in das graue Gewässer
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