Der Adler ist gelandet
still zu sein. Radl griff nach einer seiner Zigaretten.
Er trat ans Fenster und empfand eine seltsame Leere. Letzten Endes war alles eine Farce. Der Führer, Himmler, Canaris - wie Figuren eines Schattenspiels. Nichts Greifbares, nichts Reales, und dazu noch diese alberne Geschichte - dieser Churchill-Quatsch. Während die Männer an der Ostfront zu Tausenden fielen, mußte er sich die Zeit mit blödsinnigen Spielchen vertreiben, bei denen doch nichts herauskommen konnte. Er kam sich erbärmlich und nutzlos vor. Ein Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen trüben Gedanken. Der Mann, der ins Zimmer trat, war mittelgroß und trug einen Tweedanzug. Das graue Haar war unordentlich, und eine Hornbrille verbarg seine Augen. »Da sind Sie ja, Meyer. Freut mich«, sagte Radl.
Hans Meyer war damals fünfzig. Im Ersten Weltkrieg war er U-Boot-Kommandant gewesen, einer der jüngsten in der deutschen Marine. Seit 1922 arbeitete er beim Geheimdienst und war beträchtlich schärfer, als er aussah.
»Herr Oberst«, sagte er förmlich.
»Setzen Sie sich, Meyer, setzen Sie sich.« Radl wies auf einen Stuhl. »Ich lese gerade den jüngsten Bericht eines Ihrer Agenten. Deckname Star. Hochinteressant.«
»Ach ja.« Meyer nahm die Brille ab und putzte sie mit einem
schmuddeligen Taschentuch. »Joanna Grey. Eine bemerkenswerte Frau.« »Erzählen Sie mir von ihr.«
Meyer überlegte. »Was möchten Sie wissen, Herr Oberst?« »Alles!« sagte Radl.
Meyer zögerte noch eine Weile, am liebsten hätte er gefragt: »Warum?« Aber er beherrschte sich. Er setzte die Brille wieder auf und berichtete.
Joanna Grey, geborene Van Oosten, war im März 1875 in der kleinen Stadt Vierskop im Oranjefreistaat zur Welt gekommen. Ihr Vater war Farmer und Prediger der Holländischen Reformierten Kirche und hatte als Zehnjähriger den Großen Treck der Buren mitgemacht, die zwischen 1836 und 1838 aus der Kapkolonie in das Neuland nördlich des Oranjeflusses gezogen waren, um der britischen Herrschaft zu entrinnen. Joanna hatte mit zwanzig Jahren einen Farmer namens Dirk Jansen geheiratet. Ihre Tochter kam 1898 zur Welt, ein Jahr vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten mit den Briten, dem sogenannten Burenkrieg. Van Oosten stellte eine berittene Truppe auf und fiel im Mai 1900 bei Bloemfontein. Noch im gleichen Monat ging der Krieg theoretisch zu Ende, doch die folgenden zwei Jahre sollten die tragischste Epoche des ganzen Konflikts werden, ein erbitterter Kleinkrieg zahlreicher Partisanengruppen, die auf abgelegenen Farmen Unterschlupf und Hilfe suchen mußten.
Auch Dirk Jansen focht, wie so viele seiner Landsleute, in einer solchen Gruppe. Als am 11. Juni 1901 eine britische Patrouille auf der Suche nach ihm bei den Jansens Hausdurchsuchung hielt, war Dirk bereits seit zwei Monaten tot. Er war, ohne daß seine Frau es erfahren hatte, in einem Gebirgslager seinen Verwundungen erlegen. Nur Joanna, ihre Mutter und das Kind waren im Haus. Sie hatte sich geweigert, auf die Fragen des Captain zu antworten, und war in der Scheune einem verschärften Verhör unterzogen und dabei zweimal vergewaltigt worden. Ihre Beschwerde beim Distriktskommandanten wurde abgewiesen. Die Briten waren bereits dazu übergegangen, im Kampf gegen die Partisanen Farmen niederzubrennen, ganze Landstriche zu entvölkern und die Bewohner in die berüchtigten Konzentrationslager zu stecken. Die Lager wurden miserabel verwaltet. Seuchen brachen aus und rafften in vierzehn Monaten über zwanzigtausend Menschen dahin, unter ihnen Joanna Jansens Mutter und das Kind. Sie selbst überlebte nur dank der aufopfernden Pflege eines englischen Arztes namens Charles Grey, der in das Lager geschickt worden war, nachdem dessen skandalöser Zustand in England bekanntgeworden war und öffentliche Entrüstung ausgelöst hatte.
Ihr Haß auf die Briten nahm pathologische Formen an, brannte sich ihr unauslöschlich ein. Dennoch nahm sie Charles Greys Antrag an und heiratete ihn. Sie war damals achtundzwanzig, hatte Mann, Kind und alle Angehörigen verloren und besaß keinen Penny.
Kein Zweifel, Grey liebte Joanna aufrichtig. Er war fünfzehn Jahre älter als sie, zuvorkommend, freundlich und anspruchslos. Mit den Jahren entwickelte sie ihm gegenüber eine gewisse Zuneigung, empfand jedoch stets auch ein Gefühl der Gereiztheit und Ungeduld wie mit einem schwierigen Kind.
Er ließ sich von einer Londoner Bibelgesellschaft als Missionsarzt anstellen und arbeitete jahrelang in Rhodesien, Kenia und
Weitere Kostenlose Bücher