Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
Gabe, die man hat oder nicht.«
»Eine Gabe, die man trainieren kann. Wenn ich früher damit angefangen hätte, wäre es mir vielleicht möglich gewesen, deinen Sturz vorherzusehen. Vorausgesetzt, du hättest mich konsultiert. Auf alle Fälle wird es mir vielleicht helfen, den richtigen Mann zu finden.«
»Vielleicht auch nicht«, sagte Emma.
»Ich lasse dich jetzt schlafen. WeiÃt du, alles in allem kannst du dich nicht beklagen. Zumindest hast du einen guten Schutzengel.«
»Ach , findest du?! «
I m Lager des Auktionshauses von Theodor Brahms lehnte an der Wand ein blattgoldverzierter Spiegel, in dem Monsignore Vitus Wenzel sich selbst erblickte, als er die Treppe von den Geschäftsräumen in den Keller hinabstieg. Was der Monsignore sah, gefiel ihm: mit siebzig noch schlank und ebenso elegant im Ornat eines Kirchenfürsten wie im Anzug von Ermenegildo Zegna. Die Haut straff; die wenigen, wie hingetuscht wirkenden Falten zeugten von Reife, nicht von Alter. Die Schläfen silbern, die Ringe aus Gold. Ein Mann, der zu leben wusste, sich aber für die richtige Seite entschieden hatte, wenn man in Betracht zog, was nach dem Tod kommen mochte.
»Da hinten steht sie«, sagte Theodor Brahms. »Auf dem Art-déco-Tischchen. Warten Sie, ich mache etwas mehr Licht!«
Widerstrebend löste der Monsignore den Blick von seinem Spiegelbild, um in die angegebene Richtung zu schauen. Dort stand im Schein einer Schreibtischlampe mit hochgeklapptem Schirm eine aus Holz geschnitzte, gut anderthalb Meter groÃe Marienstatue. Die Madonna hielt das Jesuskind auf dem rechten Arm und wurde von einer vergoldeten Mondsichel getragen. Ãber dem Haupt der Jungfrau schwebte ein Heiligenschein aus ebenfalls vergoldeten Sternen. Gold war auch in Gewand, Schuhwerk und Kopftuch Marias die vorherrschende Farbe neben zartem Blau, Weià und verblichenem Lachsrosa.
Mit langsamen Schritten trat der Monsignore auf die Statue zu, dann blieb er in ehrfürchtigem Abstand stehen. »Wundervoll«, murmelte er. »Diese Augen, dieser Mund â¦Â«
Emmas Vater nickte, seine Augen leuchteten. »Angeb lich stammt sie aus der Werkstatt von Ignaz Günther. Aber den Mann, der sie mir zum Kauf angeboten hat, kenne ich nicht. Er machte auf mich einen, nun ja, eher unseriösen Eindruck â und er will nur eine Million dafür!«
Der Monsignore beugte sich vor, um die Holzskulptur genauer in Augenschein zu nehmen. »Und die Fassmalerei, einzigartig!«, rief er staunend aus. »Eine Million, das wäre geradezu geschenkt! Aus wessen Besitz stammt sie denn?«
»Ein Privatmann, der sich selbst als Sammler sakraler Kunst bezeichnet«, antwortete Brahms. »Er wollte seinen Namen â zu diesem Zeitpunkt, wie er sich ausdrückte â noch nicht nennen. Ich bin vielleicht übervorsichtig, aber wenn ein angeblicher Sammler seinen Namen nicht sagt, ist mir das suspekt. Leider ist auch mein Ruf schon â na ja, ein wenig ramponiert, sodass ich es mir nicht leisten kann â¦Â«
»Emma hat da so was angedeutet«, unterbrach Wenzel ihn. »Wie hieà noch der Bursche, der Ihnen damals den gefälschten Cézanne unterschieben wollte?«
»Salásy. Baron Bela von Salásy.« Brahms ballte kurz die Hände, öffnete die Fäuste aber gleich wieder. »Wenn ich einen Abnehmer für die Madonna fände, wäre ich fürs Erste saniert. Was meinen Sie â echt oder Fälschung?«
Der Monsignore antwortete nicht sofort. Sein Besuch bei Emmas Vater war zu gleichen Teilen selbstlos und nützlich, denn Emma war eine hervorragende Restauratorin. Zudem besaà sie groÃe Ãhnlichkeit mit der Tochter seiner Schwester, die er vom Säugling zu einer bezaubernden jungen Frau heranwachsen gesehen hatte.
Während dieser Zeit hatte er es manchmal bedauert, dass er seiner Berufung wegen auf Kinder verzichten musste. Als er in seiner Funktion als Leiter des Ordinariats referats für Erfassung, Erhaltung und Pflege des kirch lichen Kunst- und Kulturguts vor einigen Jahren einen Gastvortrag an der Akademie der Künste gehalten hatte, war nach der abschlieÃenden Gesprächsrunde eine junge Studentin zu ihm gekommen, Emma Brahms.
Emma wollte Restauratorin werden und hatte sich nach Möglichkeiten für ein Praktikum erkundigt. Im ersten Moment hatte er gedacht: Die Tochter, die ich nie haben werde . Allerdings hatte er sich davon
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