Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
nicht beeinflussen lassen. Er hatte ihr ein Gemälde von minderer Bedeutung zur Farbauffrischung überlassen und war überrascht gewesen, wie vorzüglich sie arbeitete, genau und einfühlsam. Ein weiterer, wichtigerer Auftrag hatte zu noch erfreulicheren Ergebnissen geführt. Danach hatte er sie unter seine Fittiche genommen und es bis heute nicht einen Moment bereut. Es hatte nie eine falsche Note in ihrem Verhältnis gegeben; sie war tatsächlich fast wie eine Tochter für ihn geworden.
Vor wenigen Tagen hatte er dann an ihrem Krankenbett ihren leiblichen Vater kennengelernt. Nachdem sie einige Worte des Trostes und der Aufmunterung gewech selt hatten, war Brahms, schon im Weggehen begrif fen, noch einmal umgekehrt. »Ach, Monsignore, wo ich Sie schon einmal unter so dramatischen Umständen treffe â¦Â«, hatte er gesagt. »Ich könnte den Rat eines Mannes von Ihrer Erfahrung als Kenner sakraler Kunst brauchen.«
Jetzt trat der Monsignore ein paar Schritte zurück. »Echt oder Fälschung â ja, das ist hier die Frage. Ich bräuchte mehr Zeit für eine sorgfältige Prüfung. Der Verkäufer hat natürlich Expertisen vorgelegt, Echtheitszertifikate, die Namen der Vorbesitzer?«
»Ja, natürlich, aber Ihnen muss ich nicht sagen, dass man die genauso fälschen kann. Das geschieht schlieÃlich oft genug. Wenn es um solche Summen geht ⦠Andererseits ist Kunst zuweilen eine sicherere Geldanlage als irgendeine Währung mit ständigen Schwankungen. Denken Sie an van Goghs Sonnenblumen.«
Plötzlich trat ein Lächeln auf das Gesicht des Jesuskinds in Marias Arm, und seine Augen hielten den Blick des Monsignore fest. Es war ein Gefühl wie früher, als er selbst noch Kind gewesen war: wenn er sich wegen etwas geschämt hatte. Das Blut schoss ihm in den Kopf, sein Gesicht schien zu glühen. Er spürte den Boden unter den FüÃen nicht mehr. Was geht mit mir vor?, dachte er. Warum ich?
Im nächsten Moment war alles wieder wie vorher. So genau er auch hinsah, das Jesuskind lächelte nicht, es sah ihn nicht mal an. Die groÃen Kinderaugen hingen verzückt am sanft geröteteten Gesicht seiner jungfräulichen Mutter.
Plötzlich hatte der Monsignore eine Idee. »Wissen Sie was, ich lasse die Madonna von einigen Experten genauer prüfen. Es gibt da mittlerweile ganz erstaunliche Möglichkeiten. Bestimmt haben Sie schon mal von Dendrochronologie gehört?«
Brahms nickte. »Damit misst man das Alter von Holz, um die Entstehung einer Skulptur datieren zu können. Falls die typischen Altersspuren künstlich wirken, unterzieht man sie einer Röntgenfluoreszenzanalyse. Mögliche Ãbermalungen lassen sich im Woodschen Licht sichtbar machen.«
»Stimmt. Glauben Sie mir, wenn es sich um eine Fälschung handeln sollte, finde ich das heraus.«
»Aber das ist doch bestimmt nicht billig â¦Â«
»Ich denke, da es sich um ein ganz besonderes Objekt heimischer Kunst handelt, kann ich das Ordinariat dazu bewegen, sich an den Kosten zu beteiligen.« Wenzel wandte sich zur Tür, drehte sich auf der Schwelle aber noch einmal um und warf einen letzten hingerissenen Blick auf die Statue. Warum ich, Herr?
V orsichtig löste Emma die Klebestreifen, die das Mullpflaster auf der Operationswunde an ihrer linken Leiste festhielten und betrachtete die entstehende Narbe. Für immer entstellt, dachte sie. Niemand würde sie je be gehren. Selbstmitleid stieg in ihr auf. Warum immer sie? Warum?
Sie befestigte das Pflaster wieder, knöpfte die Jeans aber nicht zu. Wo war ihre Handtasche? Da hinten, auf dem Boden. Mist, jetzt musste sie sich bücken! Sie humpelte zu ihrem Lieblingssessel, vor dem die Tasche lag. Setz dich erst mal hin, dann hast du es nicht mehr so weit nach unten. Sie beugte sich vor, langsam, Zentimeter für Zentimeter, bis sie die Träger der Tasche berühren konnte. Du spürst nichts, keinen Schmerz, alles halb so schlimm, gleich hast du die Tasche, dann dein Handy, und â¦
Der Schmerz war nicht halb so schlimm, er war dop pelt so schlimm. Sie biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten. Endlich hatte sie die Tasche auf dem SchoÃ. Aber als sie ihr Handy herausfischen wollte, kippte die Tasche wieder weg, und der gesamte Inhalt fiel heraus. Das Telefon rutschte auf dem glatten Parkett genau so weit, dass sie es nicht erreichen konnte, ohne wieder
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