Der Afghane
Lächeln. Es war klar, dass er noch nie so hoch oben im Gebäude gewesen war. Gumienny streckte die Hand aus, quittierte die Zustellung auf dem Klemmbrett und wartete, bis er wieder allein war.
Die neue Akte kam von seinen Kollegen in Fort Meade. Sie enthielt das Transkript der Unterhaltung der beiden Koran-Eierköpfe auf der Rückfahrt nach Washington. Einer der beiden war Brite. Seine letzte Äußerung hatte jemand in Fort Meade mit Rotstift unterstrichen und mit mehreren Fragezeichen versehen.
In seiner Zeit im Nahen und Mittleren Osten hatte Marek Gumienny viel mit den Briten zu tun gehabt, und im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute, die sich drei Jahre lang bemüht hatten, in dem Höllenloch Irak zurechtzukommen, war er nicht zu stolz, um zuzugeben, dass die engsten Verbündeten der CIA in dem, was Kipling »das große Spiel« genannt hatte, ein umfangreiches Geheimwissen über das Wüstenland zwischen Jordan und Hindukusch besaßen.
Anderthalb Jahrhunderte lang waren Briten entweder als Soldaten oder als Administratoren des alten Empires oder auch als exzentrische Abenteurer durch die Wüsten, Gebirge und Ziegenweiden dieser Gegend gezogen, die jetzt zu einer Zeitbombe für die Geheimdienste der Welt geworden war. Die Briten nannten die CIA »die Cousins« oder »die Company«, und bei den Amerikanern hieß der Londoner Dienst »die Freunde« oder »die Firma«. Für Marek Gumienny war einer dieser Freunde ein Mann, mit dem er gute Zeiten, nicht so gute Zeiten und regelrecht gefährliche Zeiten durchlebt hatte, als sie beide noch Agenten im Außendienst waren. Jetzt hockte er an einem Schreibtisch in Langley, und Steve Hill war vom Außendienstagenten zum Führungsoffizier Nahost in der Zentrale der Firma in Vauxhall Cross befördert worden.
Gumienny entschied, dass eine Konferenz nichts schaden und vielleicht etwas nützen würde. Ein Sicherheitsproblem gab es nicht. Er wusste, dass die Briten ungefähr das gleiche Material haben würden wie er. Auch sie hatten die Eingeweide des Toshiba an ihre Lausch- und Kryptografieabteilung in Cheltenham übermittelt. Auch sie würden den Inhalt ausgedruckt haben. Auch sie würden die merkwürdigen Koranverweise in den verschlüsselten Briefen analysiert haben.
Was Marek Gumienny kannte, die Londoner aber wahrscheinlich nicht, war die bizarre Bemerkung des britischen Wissenschaftlers auf dem Rücksitz eines Regierungsfahrzeugs mitten in Maryland. Auf der Konsole auf seinem Schreibtisch wählte er eine Nummer. Zentrale Vermittlungsstellen sind bis zu einem gewissen Punkt ganz brauchbar, aber durch moderne Technologien kann auch eine Führungskraft ihre Verbindungen viel schneller über die Kurzwahltasten am persönlichen Satellitentelefon herstellen.
Ein Telefon klingelte in einem bescheidenen Einfamilienhaus in Surrey, gleich außerhalb von London. Acht Uhr morgens in Langley, ein Uhr mittags in London – die Familie wollte gerade den Sonntagsbraten verzehren. Beim dritten Klingeln meldete sich jemand. Steve Hill hatte seine Golfpartie genossen, und jetzt wollte er sein Roastbeef genießen.
»Hallo?«
»Steve? Marek.«
»Alter Junge, wo sind Sie? Etwa hier drüben?«
»Nein, ich sitze an meinem Schreibtisch. Können wir auf die sichere Leitung wechseln?«
»Na klar. Geben Sie mir zwei Minuten …« Die Stimme wurde leiser. »Darling, warte noch mit dem Braten.« Dann war die Leitung tot.
Beim zweiten Anruf klang die Stimme aus England ein bisschen blechern, aber das Gespräch war abhörsicher.
»Verstehe ich recht, dass ganz in Ihrer Nähe eine gewisse Substanz angefangen hat zu dampfen?«, fragte Hill.
»Man sieht kaum noch die Hand vor Augen«, stimmte Gumienny zu. »Ich nehme an, Sie haben ungefähr das Gleiche wie ich aus Peschawar bekommen?«
»Vermutlich. Ich hab's gestern gelesen. Hab mich schon gefragt, wann Sie anrufen.«
»Ich habe etwas, das Sie vielleicht nicht haben, Steve. Wir haben hier einen Gastprofessor aus London. Er hat am Freitagabend eine beiläufige Bemerkung gemacht. Ich will gleich zur Sache kommen. Kennen Sie einen Mann namens Martin?«
»Martin wer?«
»Martin ist sein Nachname. Sein Bruder hier drüben ist Dr. Terry Martin. Klingelt's?«
Steve Hill wurde ernst. Er hielt den Telefonhörer ans Ohr und starrte ins Leere. O ja, er kannte Martins Bruder. Damals, im ersten Golfkrieg 1990/91 hatte Hill zum Führungsteam in Saudi-Arabien gehört, als der Bruder des Professors sich nach Bagdad hineingeschlichen und dort vor der
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