Der Afghane
seinen Männern: »Da gibt es einen Ort namens Qala-i-Jangi, östlich von Mazar, und irgendetwas scheint da im Gange zu sein. Anscheinend haben Gefangene revoltiert, ihren Wachen die Waffen abgenommen und einen Kampf vom Zaun gebrochen. Ich glaube, wir sollten uns das mal ansehen.«
Sechs Marines wurden für den Einsatz ausgewählt und bekamen zwei vollgetankte Landrover. Als sie losfahren wollten, fragte Martin: »Was dagegen, wenn ich mitfahre? Vielleicht brauchen Sie einen Dolmetscher.«
Der Offizier der kleinen SBS-Einheit war Captain der Marineinfanterie. Martin war Colonel der Fallschirmjäger. Es gab keine Einwände. Martin nahm im zweiten Fahrzeug neben dem Fahrer Platz. Hinter ihm hockten zwei Marines an einem M2 Maschinengewehr, Kaliber 50. Die sechsstündige Fahrt führte über den Salangpass in die Ebenen des Nordens, nach Mazar und weiter zur Festung Qala-i-Jangi.
Welches Ereignis das Massaker an den Gefangenen von Qala-i-Jangi ausgelöst hat, war schon damals umstritten und ist es bis heute. Aber es gibt ein paar überzeugende Hinweise.
Die westlichen Medien, denen es niemals schwerfällt, einen Sachverhalt komplett misszuverstehen, bezeichneten die Gefangenen hartnäckig als Taliban. Tatsächlich handelte es sich – mit Ausnahme der sechs zufällig daruntergeratenen Afghanen – um besiegte al-Qaida-Kämpfer. Als solche waren sie eigens nach Afghanistan gekommen, um ihren Dschihad zu führen, zu kämpfen und zu sterben. Was da von Kundus nach Westen transportiert worden war, waren sechshundert der gefährlichsten Männer im Mittleren Osten.
Was sie in Qala erwartete, waren hundert halb ausgebildete Usbeken unter einem völlig inkompetenten Offizier. Rashid Dostum selbst war nicht da; statt seiner führte sein Stellvertreter Sayid Kamel das Kommando.
Unter den sechshundert Mann waren ungefähr sechzig, die zu drei nichtarabischen Kategorien gehörten. Die einen waren Tschetschenen, die in Kundus geahnt hatten, dass die Auslieferung an die Russen für sie das Todesurteil bedeutete, und sich der Auswahl hatten entziehen können. Die anderen waren usbekische Widerständler gegen Taschkent, denen ebenfalls klar war, dass ihnen in Usbekistan nichts als ein elender Tod bevorstand, und die sich deshalb versteckt hatten. Und die dritte Gruppe waren Pakistani, die sich dummerweise vor der Rückführung nach Pakistan gedrückt hatten, wo man sie freigelassen hätte.
Die Übrigen waren Araber. Anders als viele der Taliban, die in Kundus zurückgeblieben waren, hatten sie freiwillig und nicht gezwungenermaßen an den Kämpfen teilgenommen. Alle waren ultrafanatisch. Alle hatten die Ausbildungslager der al-Qaida durchlaufen, und sie waren wilde, gewandte Kämpfer. Allen lag wenig am Leben. Von Allah erbaten sie nur die Chance, ein paar Westler oder Freunde von Westlern mit in den Tod zu nehmen und so als schahid, als Märtyrer, zu sterben.
Die Festung Qala ist nicht wie eine abendländische Burg gebaut. Auf ihrem vier Hektar großen Gelände gibt es offene Flächen, Bäume und eingeschossige Gebäude. Das Ganze ist von einer fünfzehn Meter hohen Mauer umgeben, die aber zu allen Seiten schräg abfällt, sodass ein geschickter Kletterer hinaufsteigen und oben über die Brüstung spähen kann.
Im Innern dieser dicken Mauern verbirgt sich ein Labyrinth von Unterkünften, Lagerräumen und Gängen, und darunter liegt ein weiteres Gewirr von Tunneln und Kellerräumen. Die Usbeken hatten diese Festung erst zehn Tage zuvor eingenommen und schienen nicht zu wissen, dass sich am südlichen Ende ein Waffenlager der Taliban befand. Genau dorthin trieben sie ihre Gefangenen.
In Kundus hatte man den Gefangenen ihre Gewehre und Granatwerfer abgenommen, aber Leibesvisitationen hatten nicht stattgefunden, denn sonst hätte man bemerkt, dass fast jeder Mann eine oder zwei Handgranaten unter seinen Gewändern bei sich trug. Und so waren sie mit dem Konvoi nach Qala gekommen.
Der erste Hinweis darauf kam am Abend ihrer Ankunft, einem Samstag. Izmat Khan war im fünften Lastwagen und hörte den Knall aus hundert Metern Entfernung. Ein Araber hatte mehrere Usbeken um sich versammelt, seine Granate gezündet und sich selbst und fünf Usbeken zerfetzt. Die Nacht kam. Es gab kein Licht. Dostums Männer nahmen sich vor, die Gefangenen am nächsten Morgen zu durchsuchen. Sie führten sie ohne Nahrung und Wasser in die Festung und ließen sie dort auf dem Boden hocken, umringt von bewaffneten, aber bereits ziemlich nervösen
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