Der Alchimist von Krumau
kämpfen!«
D’Alembert hatte eine solche Verwandlung schon einmal miterlebt, bei einer Bauernrevolte vor zwanzig Jahren, als ein halbes Hundert plumper Männer, nur mit Forken und Flegeln gewappnet, sich unter trunkenen Gesängen einer Übermacht schwer bewaffneter Wehrknechte entgegenwarf. War es erst einmal so weit gekommen, dass die Bestien in den Menschen die Oberhand gewonnen hatten, dann konnte selbst der beste Bändiger sie nicht mehr seinem Willen unterwerfen – zumindest nicht in diesem Moment archaischer Ekstase, in dem alle Körper, Seelen und Herzen zu einem einzigen, ungeschlachten Leib verschmolzen schienen.
Auf dem schwarzen Kasten balancierend, den irgendwer hier an der Mauer abgestellt hatte, begnügte sich der Maître damit, still zu beobachten, wie die Dinge sich entwickelten, doch er fürchtete das Ärgste, denn die Szenerie enthielt alle benötigten Zutaten für einen bestialischen Tumult.
Die »Kätzchen« unternahmen einen schwachen Versuch, ihr aufgemaltes Fell und alles Darunterliegende zu retten, aber die Menge packte sie mit drei Dutzend mitleidlosen Händen und stieß sie nach vorn. »Kämpfen, kämpfen!«, kreischte es weiter aus hundert Mäulern, während zwei der Getigerten, Junge und Mädchen, von der Menge ausgespien wurden und auf den freien Platz vor dem Bären taumelten.
Für einen Moment lähmenden Entsetzens glaubte d’Alembert, dass es Fabrio und Lenka wären, dann erst erkannte er die Gesichter hinter den Tigermasken. Der Maler Gabriele hatte die beiden unlängst mitgebracht – Piero und Clarissa, wenn er sich recht erinnerte –, Zwillinge angeblich auch sie, wie es die allerneueste Mode befahl.
Die Menge stöhnte auf, und der Schlachtruf verdorrte auf hundert Lippenpaaren, als das Mädchen direkt vor dem Bären zu Boden fiel. Mit seinen winzigen Augen stierte das Tier ins Weite, als ob es sich fragte, wie nun weiter zu verfahren sei. Dann senkte es unvermittelt den Kopf und starrte auf Clarissa hinab, die mit einer Miene leeren Entsetzens zu ihm emporsah.
Der Sohn des Bärenfängers hatte die Hand mit dem Schlegel sinken lassen. Einen endlosen Augenblick lang war nichts als das Wimmern des nackten Mädchens zu hören, das in seiner lachhaften Tigermaskerade vor dem Bären lag und seine Todesangst aus sich herausfiepte. Dann sackte die Bestie nach vorn.
D’Alembert, der zu diesem Zeitpunkt seine Augen längst geschlossen hatte, vernahm einen zähen Schmatzlaut, während seine Einbildungskraft ihm mit unerbittlicher Genauigkeit vormalte, wie die Überreste des Mädchenkörpers unter den Vorderpratzen hervorquollen, ein Frikassee aus Knochensplittern, Fleisch und Blut.
»Bekennet Eure Sünden – büßet und schwöret dem Frevel ab – preiset den Namen des He-he-herrn!«
Für einen kurzen Moment fürchtete der Maître, dass er tatsächlich das Bewusstsein verloren haben könnte. Aber er stand noch immer auf dem Holzkasten neben der Grabenmauer, und das Dutzend jubilierender Nonnen, das vom Spital her über den Burghof wandelte – die knöchellangen schwarzen Kutten, die ihren Bewegungen etwas Schwebendes verliehen; die strengen Gesichter, umschlossen von strahlend weißen Hauben; die gleichförmig sich öffnenden und schließenden Münder, aus denen heller Gesang brach; die Weihrauchwedel, die sie rhythmisch über der Menge schwenkten; die Glöckchen, die sie bei jedem »He-he-herrn!« wie rasend erklingen ließen –, all das wirkte zwar närrisch wie die Szenen mancher Träume, gehörte aber zweifellos der Wirklichkeit dieses Junitages an. Zumal d’Alembert einige Schritte hinter den singenden Nonnen nun auch noch eine durch und durch weltliche Gestalt erblickte, mit glänzender Glatze und puterrotem Antlitz, das wie ein Lampion über dem eng anliegenden schwarzen Gewand nach spanischer Mode schaukelte. Was aber hatte Kasimir von Rosert mit Johannas frommen Weibern zu schaffen?
»Bekennet Eure Sünden, büßet und schwöret dem Frevel ab, preiset den Namen des He-he-herrn!«
Während der Maître den zwölf heiligen Frauen und dem Medikus entgegensah, ängstlich bemüht, die zermalmte Clarissa aus seinem Blickfeld und seinen Gedanken zu verbannen, krachte eine Salve von Gewehrschüssen in sein Gehör. Er fuhr herum, verlor nun ernstlich die Balance, stolperte von seinem hölzernen Podest und ging im selben Moment zu Boden wie der Braunbär unten am Tor.
Im Fallen sah d’Alembert eben noch, wie Julius einem Gardisten seine rauchende Flinte zurückgab, dann
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