Der Alchimist von Krumau
musste er tatsächlich für einen winzigen Moment in die süße Schwärze einer Ohnmacht abgeglitten sein.
Als er die Augen wieder öffnete, leuchtete über ihm von Roserts Schädel wie ein Erntemond. »Madame Markéta hat drum gebeten, dass ich den Leichnam noch einmal beschaue, ehe er beigesetzt wird.«
D’Alembert sah ihn nur ratlos an, zu viele Fragen schwirrten durch seinen viel zu benommenen Kopf. Außerdem standen die heiligen Frauen im Kreis um ihn und den Medikus, unverdrossen bimmelnd, Weihrauch verspritzend und aus zwölf selbstgerechten Mündern singend: »Bekennet Eure Sünden, büßet und schwöret dem Frevel ab, preiset den Namen des He-he-herrn!«
Er reichte dem Medikus eine Hand, tastete mit der anderen nach seinem Stöckchen und ließ sich auf die Füße ziehen. Erst als von Rosert sich nach dem länglichen Holzkasten bückte und ihn ächzend auf seine Schulter hob, dämmerte dem Maître, dass er die letzte Behausung des unglücklichen Flößerbuben als Aussichtspunkt missbraucht hatte.
»Und Madame Markéta hat Euch gebeten?«, fragte er nach.
»Nun, nicht direkt mich. Sie wünscht, dass ein Kundiger den Leichnam beschaut, und da ihrem Herrn Vater das Privilegium entzogen wurde …«
»… kommt nur noch Ihr dafür in Frage?«, vollendete d’Alembert, dem mehrere Schleier gleichzeitig von den Augen fielen.
»So ist es, Maître d’Alembert«, bestätigte der Medikus. Er machte den heiligen Frauen ein Zeichen, worauf diese sich je zu sechst an seinen Seiten formierten.
Die überlebenden Tigerkätzchen drängten sich fröstelnd in die Arme ihrer schnabelbeschuhten Beschützer, und Don Julius ließ sich mit finsterer Miene von Markéta da Ludanice zurück in die obere Burg führen. Am Burgtor versuchten die Lakaien unter Rufen und Flüchen, die Überreste der kleinen Clarissa unter dem Kadaver hervorzuziehen. Mit Tränen in den Augen standen der Bärenfänger und sein Sohn dabei, ohne einen Finger zu rühren. Währenddessen lehnte d’Alembert noch immer an der Grabenmauer und schaute, seine vom Sturz beschmutzten Kleider beklopfend, dem Medikus und den heiligen Frauen hinterher, bis sie allesamt im gräflichen Spital verschwunden waren und nur ihr Chorgesang noch über dem Burghof zu schweben schien: »… den Namen des He-he-herrn!«
52
Der Junge in der Quelle, umwabert von Nebelschwaden: Das Bild verfolgte Flor bis in den Schlaf. Seine blonden Locken, vor Nässe gedunkelt, die milchigen Augen, das Gesicht in Dampf und Angst zerfließend – das war schon mal, schon einmal, dachte er, bei verhängtem Fenster in Markétas Schlafgemach liegend, aber wo nur, wo?
Und dazu Markétas Ausruf, als sie den Knaben hinterm Nebelschleier erspäht hatte: »Flor, um Himmels willen, Flor!« Dabei hatte er ja neben ihr gestanden, unter den Eichbäumen, auf der kleinen Lichtung, an deren Rand die Quelle dampfte.
Und hatte Markétas Hand umklammert wie früher, wie vor kurzem noch die kleine, schwielenreiche Hand der Steinerin.
»Ra-raus, Ro-rolf!« Er begann zu schreien, erschrocken mehr über Markétas Ausruf als über das Nebelbild, das sich ihren Augen bot: der Junge, aus dem Felsloch kriechend, von Dampf umwabert, wie ein riesenhafter Säugling, so nackt und rot. Als ob die Erde selbst ihn gebären würde! »Krie-kriech, Rolf! Rasch, Ro-rolf! Ra-raus!«
Das war schon mal, schon einmal, dachte er wieder, aber wo nur, wo?
»Die Welt hinterm Nebel«, hörte er Markéta flüstern, dicht an seinem Ohr. Sie hielt ihn umschlungen, zog ihn langsam auf die Quelle zu und flüsterte unablässig auf ihn ein, Worte, deren summender Klang ihn tröstete, auch wenn er ihre Bedeutung nicht verstand: »Ganz wie in meinem Traum, Mutter Bianca. Und jetzt er: Nico, natürlich Nicodemus, nicht Flor. Und doch genauso, wie mir Flor mal erschienen ist, ganz zu Anfang: als Bote aus der Welt hinterm Nebel. Aber ich versteh’s nicht, immer noch nicht, ich begreif bald gar nichts mehr!«
Sie ging am Rand der Quelle in die Knie, wollte ihn mit sich hinabziehen, aber Flor machte sich los.
»Ni-nicht zurück!« Wieder begann er zu schreien, während er unverwandt auf den dampfumwallten Körper in der Quelle starrte, die aufgestemmten Ellbogen, der kochendrote Kopf auf einen Arm gebettet wie zum Schlaf. »Ra-raus, Ro-rolf! Ni-nicht zurück!«
»Er ist tot«, hatte er Markéta flüstern gehört. »Flor, begreifst du nicht: Er ist tot!«
Da hatte er sich neben Markéta niedergehockt, sterbensmatt war ihm mit
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