Der Alchimist
daß er die Welt entweder mit den Augen eines armen, beraubten Opfers sehen konnte oder aber als Abenteurer, auf der Suche nach einem Schatz. >Ich bin ein Abenteurer auf dem Weg zu meinem Schatz<, dachte er noch, bevor er erschöpft einschlief.
15
Er wachte auf, als ihn jemand anstieß. Er war mitten auf dem Marktplatz eingeschlafen, der sich nun wieder belebte. Verstört schaute er sich nach seinen Schafen um, bis er merkte, daß er sich in einer anderen Welt befand. Aber anstatt traurig zu sein, fühlte er sich glücklich. Nun brauchte er nicht mehr nach Wasser und Nahrung zu suchen; nun konnte er einen Schatz suchen. Er hatte zwar kein Geld in der Tasche, aber er glaubte an das Leben. Am Vorabend hatte er sich entschieden, ein Abenteurer zu sein, wie die Helden in den Büchern, die er las. Ohne Eile spazierte er über den Platz. Die Händler bauten ihre Stände auf; er half einem Süßwarenhändler dabei. Auf dem Gesicht des Händlers lag ein zufriedenes Lächeln: Er war fröhlich, offen fürs Leben und bereit, einen guten Arbeitstag zu beginnen. Dieses Lächeln erinnerte ihn irgendwie an den Alten, diesen geheimnisvollen König, der ihm begegnet war. >Dieser Händler macht sicher kein Zuckerwerk, weil er eines Tages reisen will, oder weil er die Tochter eines Kaufmannes heiraten will. Er stellt seine Leckereien her, weil er es gerne tut<, überlegte der Jüngling und bemerkte, daß er dasselbe tun konnte wie seinerzeit der Alte - erkennen, ob eine Person nahe oder weit von ihrem persönlichen Lebensweg entfernt war. Nur so vom Ansehen. >Es ist so einfach, aber ich habe es noch nie bemerkt.< Als der Stand fertig aufgebaut war, reichte ihm der Händler die erste
s Süßigkeit, die er zubereitet hatte. Der Jüngling ließ e sich schmecken, dankte und zog seines Weges. Als er sich schon etwas entfernt hatte, fiel ihm erst auf, daß der Stand von einer arabisch und einer spanisch sprechenden Person aufgebaut worden war. Und sie hatten sich bestens verständigt.
>Es gibt eine Sprache, die jenseits der Worte steht<, dachte er. >Das konnte ich früher schon mit den Schafen erleben und fetzt auch mit den Menschen.< Er lernte verschiedene neue Dinge. Dinge, die er bereits erlebt hatte, die ihm dennoch neu erschienen, weil er sie damals unbeachtet ließ. Und er hatte sie nicht beachtet, weil er an sie gewöhnt war. »Wenn ich diese Sprache ohne Worte zu entziffern lerne, dann gelingt es mir auch, die Welt zu entziffern.« »Alles ist in Einem«, hatte der Alte gesagt.
Er beschloß, ohne Hast und ohne Unruhe durch die schmalen Straßen von Tanger zu schlendern: Nur so würde er die Zeichen bemerken. Das verlangte eine Menge Geduld, aber genau das ist die erste Tugend, die ein Hirte lernt. Wieder fiel ihm auf, daß er in dieser fremden Welt die Lektionen anwandte, die ihn seine Schafe gelehrt hatten.
»Alles ist in Einem«, hatte der Alte gesagt.
16
Der Kristallwarenhändler sah die Sonne aufgehen und empfand die gleiche Beklemmung wie an jedem Morgen. Seit beinahe dreißig Jahren war er nun schon am selben Ort, in einem Laden am oberen Ende einer ansteigenden Straße, wo nur noch selten ein Kunde vorbeikam. Jetzt war es zu spät, um noch etwas ändern zu wollen: Alles, was er im Leben gelernt hatte, war, Kristallglas zu kaufen und zu verkaufen. Es gab eine Zeit, als viele Leute sein Geschäft besuchten, arabische Händler, englische und französische Geologen, deutsche Soldaten, alle mit Geld in der Tasche.?.
Zu jener Zeit war es ein tolles Abenteuer, Gefäße aus Kristallglas zu verkaufen, und er freute sich darauf, ein reicher Mann zu werden und im Alter von schönen Frauen umgeben zu sein.
Doch die Zeit verstrich, die Stadt Ceuta wuchs mehr als Tanger, und der Handel ging andere Wege. Die Nachbarn waren fortgezogen, und nur wenige Läden blieben am Berghang zurück. Und wer kam schon wegen einiger weniger Geschäfte eigens den Hang hinauf? Aber der Kristallwarenhändler hatte keine Wahl. Dreißig Jahre seines Lebens kaufte und verkaufte er Kristallglas, und nun war es zu spät, andere Wege zu gehen.
Während des ganzen Vormittags schaute er dem wenigen Betrieb auf der Straße zu. Das machte er schon seit Jahren, und so kannte er den Rhythmus eines jeden. Wenige Minuten vor der Mittagspause blieb ein junger Ausländer vor seinem Schaufenster stehen. Er war normal gekleidet, aber der Kristallwarenhändler erkannte mit kundigem Blick, daß jener kein Geld hatte. Dennoch beschloß der Händler, nach innen zu gehen
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