Der Alchimist
hernieder und griff den anderen an. Während dieser schnellen Bewegung hatte der Jüngling plötzlich einen Augenblick lang eine Vision: Ein Heer mit erhobenen Schwertern drang in die Oase ein. Die Vision war sogleich wieder verschwunden, aber er war äußerst erschrocken. Er hatte schon von Luftspiegelungen gehört und auch einige gesehen: Es waren Wünsche, die über dem heißen Wüstensand Gestalt annahmen. Aber er wünschte doch nicht, daß ein Heer in die Oase einfiele.
Er wollte den Zwischenfall vergessen und versuchte, sich wieder auf die rosa schimmernde Wüste und die Steine zu konzentrieren. Doch irgend etwas in seinem Herzen ließ ihm keine Ruhe mehr. »Achte stets auf die Zeichen«, hatte der alte König gesagt. Und der Jüngling dachte an Fatima. Er dachte an das Gesehene und ahnte, daß es kurz bevorstand.
Mit einiger Schwierigkeit fand er aus der Versunkenheit heraus, in der er sich befand. Er stand auf und begab sich auf den Weg zu den Dattelpalmen. Wieder einmal bemerkte er die vielen Ausdrucksweisen der Dinge: Diesmal schien die Wüste sicher, während sich die Oase in einen unsicheren Ort verwandelt hatte.
Der Kameltreiber saß unter einer Palme und beobachtete ebenfalls den Sonnenuntergang. Er sah den Jüngling hinter einer Düne hervortreten. »Ein Heer ist im Anmarsch. Ich hatte eine Vision«, sagte dieser. »Die Wüste erfüllt die Herzen der Menschen mit Visionen«, entgegnete der Kameltreiber gelassen.
Aber der Jüngling berichtete von den Vögeln: Er hatte ihren Flug verfolgt, als er plötzlich in die Weitenseele eingetaucht war. Hierauf sagte der Kameltreiber nichts mehr; er wußte sehr wohl, wovon der Jüngling sprach. Er wußte, daß jedes Ding auf der Welt die Geschichte von allen Dingen erzählen konnte. Wenn er ein Buch zufällig aufschlug oder Leuten die Hand las oder Karten legte oder den Flug von Vögeln beobachtete oder was auch immer, konnte jeder eine Verbindung zu dem herstellen, was er gerade lebte. In Wirklichkeit waren es nicht die Dinge, die etwas zeigten; es waren die Menschen selber, die, indem sie sich auf die Dinge konzentrierten, die Möglichkeit entdeckten, in die Weitenseele einzutauchen.
In der Wüste gab es viele Männer, die sich ihren Unterhalt damit verdienten, in die Weitenseele einzudringen. Sie nannten sich Wahrsager und wurden von Frauen und den Alten gefürchtet. Nur selten suchten die Krieger sie auf, weil es unmöglich ist, in eine Schlacht zu ziehen, wenn man vorher schon weiß, daß man dabei umkommt. Die Krieger ziehen den Reiz des Gefechts vor sowie das Abenteuer des Unbekannten; die Zukunft steht geschrieben, von Allahs Hand, und was auch immer passieren würde, es ist zum Besten des Menschen. Also leben die Krieger nur die Gegenwart, weil diese voller Überraschungen ist und sie so vieles zu beachten haben: wo das Schwert des Feindes niedergeht und wo das Pferd ist, und wie sie parieren müssen, um dem Tod zu entkommen. Der Kameltreiber war kein Krieger und hatte schon ~. einige Wahrsager konsultiert. Viele hatten mit ihren Aus sagen recht gehabt, andere nicht. Bis einer von ihnen, der älteste und gefürchtetste, ihn fragte, warum er so an der Zukunft interessiert sei. »Um einiges in Angriff zu nehmen und anderes abzuwenden, von dem ich nicht will, daß es eintrifft«, antwortete der Kameltreiber. . »Dann ist es ja nicht mehr deine Zukunft«, meinte der Wahrsager. »Vielleicht möchte ich auch die Zukunft kennen, um mich darauf vorbereiten zu können.« »Wenn es gute Dinge sind, dann wird es eine angenehme Überraschung sein«, sagte der Wahrsager. »Und wenn es unangenehme Dinge sind, dann leidest du schon lange, bevor sie eintreffen.« »Ich möchte die Zukunft kennen, weil ich ein Mensch bin, und wir Menschen leben nun einmal im Hinblick auf die Zukunft«, sagte der Kameltreiber zum Wahrsager.
Hierauf schwieg der Wahrsager. Er beherrschte die Kunst mit den Stäbchen, welche er auf den Boden warf, um dann zu interpretieren, wie sie lagen. Aber an jenem Tag warf er keine Stäbchen. »Ich verdiene mein Geld mit Zukunft deuten«, sagte er. »Ich kenne die Wissenschaft der Stäbchen und weiß, wie ich sie handhaben muß, um in den Raum einzutauchen, wo alles geschrieben steht. Dort kann ich die Vergangenheit sehen, wiederentdecken, was in Vergessenheit geriet und die Zeichen der Gegenwart deuten. Wenn die Leute mich aufsuchen, dann sehe ich nicht ihre Zukunft, sondern ich erahne sie. Denn die Zukunft gehört Gott allein, und er offenbart sie
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