Der Alchimist
Schulter. Er trug einen Turban und vor dem Gesicht ein Tuch, das nur die Augen frei ließ. Er glich dem Botschafter der Wüste, und seine Ausstrahlung war stärker als die aller Personen, die er bisher kennengelernt hatte.
Der geheimnisvolle Reiter zog sein gebogenes Schwert, das am Sattel befestigt war. Der Stahl leuchtete im Mondlicht auf. »Wer wagt hier den Flug der Sperber zu deuten«, fragte er mit einer gewaltigen Stimme, die zwischen den fünfzigtausend Dattelpalmen von El-Fayum widerzuhallen schien. »Ich wagte es«, sagte der Jüngling. Er mußte an Santiago von Compostela denken, an seinen Schimmel und die Ungläubigen unter seinen Hufen. Nur daß es jetzt die umgekehrte Situation war. »Ich wagte es«, wiederholte er und duckte sich, um dem Schwerthieb auszuweichen. »Viele Leben werden dank der Wellenseele gerettet werden, mit der ihr nicht gerechnet habt.« Doch das Schwert fuhr nicht auf ihn hernieder.
Die Hand des Fremden mit dem Schwert senkte sich langsam herunter, bis die Spitze der Klinge die Stirne des Jünglings berührte. Sie war so scharf, daß ein Blutstropfen heraustrat. Der Reiter blieb unbeweglich. Der Jüngling ebenfalls. Der Gedanke an Flucht kam ihm gar nicht. In seinem Herzen regte sich eine seltsame Freude: Er würde für seine innere Bestimmung sterben. Und für Fatima. Also hatten die Zeichen nicht getrogen. Hier war nun der Feind, und er brauchte keine Angst vor dem Tod zu haben, denn es gab eine Wellenseele. Bald würde er ein Teil von ihr sein. Und morgen schon würde der Feind auch ein Teil davon sein.
Der Fremde hielt immer noch die Spitze des Schwertes auf seine Stirn. »Wieso hast du den Flug der Vögel gedeutet?« »Ich habe nur gelesen, was die Vögel mitteilen wollten. Sie möchten die Oase retten, und ihr werdet sterben. Die Oase hat mehr Männer, als ihr es seid.« Die Schwertspitze berührte weiter seine Stirn.
»Wer bist du, um das .von Allah bestimmte Schicksal ändern zu wollen?« »Allah hat die Heere gemacht und auch die Vögel. Allah hat mir die Sprache der Vögel gezeigt. Alles wurde von der gleichen Hand geschrieben«, sagte der Jüngling, der Worte des Kameltreibers eingedenk. Endlich entfernte der Reiter das Schwert von seiner Stirn. Der Jüngling fühlte sich erleichtert, aber er vermochte nicht zu fliehen. »Sei vorsichtig mit den Vorhersagen«, sagte der Fremde. »Wenn die Dinge geschrieben stehen, dann kann man sie nicht verhindern.« »Ich sah lediglich ein Heer, aber nicht den Ausgang einer Schlacht«, entgegnete der Jüngling.
Nun schien der Reiter zufrieden mit der Antwort. Aber er hielt das Schwert noch immer in der Hand.
»Was treibt ein Fremder in einem fremden Land?« »Ich bin auf der Suche nach meinem persönlichen Lebensweg. Doch das kannst du nicht verstehen.« Der Reiter steckte sein Schwert wieder in die Scheide, und der Falke auf seiner Schulter stieß einen eigenartigen Schrei aus. Der Jüngling begann sich zu entspannen.
»Ich mußte nur deinen Mut prüfen«, sagte der Fremde. »Denn Mut ist die wichtigste Gabe für denjenigen, der die Sprache der Welt sucht.« Der Jüngling war überrascht. Dieser Mann sprach von Dingen, die nur wenige kannten.
»Man darf nie erschlaffen, selbst wenn man schon so weit gekommen ist«, fuhr er fort. »Man muß die Wüste lieben, darf ihr aber nie ganz vertrauen. Denn die Wüste bedeutet für jeden eine Prüfung: Sie tötet den, der sich ablenken läßt und nicht jeden Schritt überlegt.« Seine Worte erinnerten an die Worte des alten Königs. »Wenn die Krieger kommen und dein Kopf bei Sonnenuntergang noch auf deinen Schultern sitzt, dann besuche mich«, sagte der Fremde. Dieselbe Hand, die das Schwert geschwungen hatte, schwang jetzt eine Peitsche. Das weiße Pferd bäumte sich wieder auf und wirbelte eine Sandwolke auf.
»Wo wohnst du?« rief der Jüngling hinter dem entschwindenden Reiter her. Die Hand mit der Peitsche zeigte gen Süden. Der Jüngling war dem Alchimisten begegnet.
21
Am nächsten Morgen gab es zweitausend bewaffnete Männer unter den Palmen von El-Fayum. Noch bevor die Sonne senkrecht stand, tauchten fünfhundert Krieger am Horizont auf. Die Reiter kamen aus nördlicher Richtung in die Oase, sie wirkten wie eine friedliche Expedition, aber unter ihren weißen Gewändern hielten sie Waffen verborgen. Als sie in die Nähe des großen Zeltes im Zentrum von El-Fayum kamen, zogen sie ihre Krummsäbel und Gewehre hervor und griffen ein leeres Zelt an. Die Wüstenmänner umzingelten
Weitere Kostenlose Bücher