Der Algebraist
NMR-holo-induzierten
Traumzustands einzutreten, er konnte sozusagen mit ihr Schnorcheln,
während sie, noch mit Kiemen atmend, dem Strand der weltlichen
Realität zustrebte.
- He, Fass!, hatte sie gesendet, als er zum ersten Mal
eingetaucht war. Er hatte sich einen kleinen NMR-Kragen
übergestreift und war Teil ihres sich langsam
verflüchtigenden Traums geworden. Sie war anderthalb Tage fort
gewesen; ein langer Traum. – Du kommst mir entgegen? Danke,
Partner!
- Hat es Spaß gemacht?, fragte er.
- Mehr als das. Rate mal, wo ich war?
Er sendete ein Achselzucken. – Keine Ahnung.
- Ich war auf einem Trip! Ein Trip im T-Traum, wie es die Seher
machen. Nach Nasqueron! Nun, es war nicht wirklich Nasq, es war ein
anderer Gasriese namens Furenasyle. Das muss die Vorlage für den
Chip gewesen sein. Hast du schon einmal von Furenasyle
gehört?
- Ja, das ist auch ein Planet, wo man Dweller-Forschung
betreibt. In deinem T-Traum warst du also dort? Auf einem Trip?
Tatsächlich?
- Klar doch. Warum tust du so, als wäre das was
Besonderes? Fass, es war toll! Der beste T-Traum… nun ja,
der zweitbeste T-Traum, den ich jemals hatte! K schickte ein
verschwörerisch-anzügliches Grinsen in seine Richtung. Er
konnte sich denken, welchen T-Traum sie meinte. Sie hatten ihn
zusammen erlebt. Ein Liebes-T-Traum, eine gemeinsame Immersion in die
Gefühle, die sie füreinander hegten. Vermutlich jedenfalls.
Liebes-T-Träume waren in mancher Beziehung kitschig – man
konnte auch darin noch über seine Gefühle lügen, und
wenn man die richtige Vorlage aus dem Traumalysator wählte und
die dazu passenden Chemikalien in den Narko-Infusor gab, war ein
unvergleichlicher T-Traum mit großen Augen, Herzklopfen und
blinder Glückseligkeit praktisch garantiert, sogar bei zwei
Personen, die einander im Grunde hassten. Aber für sie beide war
es ein guter Traum gewesen. Gut, aber nichts, was er hätte
wiederholen wollen. Vermutlich stand er allen VR-Erlebnissen mit
Misstrauen gegenüber, und T-Träume, besonders mit
zugeschaltetem Narko-Infusor, der die entsprechenden synthetischen
Chemikalien ins Gehirn einspeiste, waren die immersivste VR, die man
finden konnte. Jedenfalls im Bereich der Legalität oder
Halblegaliltät.
- Du solltest es probieren! Wirklich! Glaubst du nicht, dass
das eine gute Übung für dich wäre?
- Schon möglich. Falls ich solche Trips irgendwann zu
meinem Beruf machen sollte. Du würdest es also
empfehlen?
- Wenn es so ist wie eben, dann sicher.
Er war keineswegs sicher. Er war noch jung, hatte sich noch nicht
entschieden. Sollte er ein ›Langsamen‹-Seher werden, wie es
offenbar alle Welt von ihm erwartete, auch die Leute, mit denen er
das Nest auf Hab 4409 (dem ›Happy Hab‹) teilte? Oder sollte
er etwas ganz anderes machen? Er wusste es immer noch nicht. Allein
die Tatsache, dass jedermann glaubte, er würde nach ein paar
wilden Jahren doch irgendwann Seher werden – und es waren
wirklich wilde Jahre, kein Leben, wie man es für immer oder auch
nur für längere Zeit führen konnte – stärkte
seine Entschlossenheit, solche Erwartungen nicht zu
erfüllen… wobei ›Entschlossenheit‹ sicher ein zu
starkes Wort war. Widerstreben. Stärkte sein Widerstreben. Das
war vermutlich besser. Trotzdem, vielleicht würden sie sich alle
noch wundern. Vielleicht zog er davon und suchte sich etwas
völlig anderes, etwas, das unerhört aufregend war. Er
musste nur sehr viele verschiedene Dinge ausprobieren, bis er das
Richtige gefunden hatte.
- Hör zu, ich gehe wahrscheinlich mit den anderen zur
Demo. Es sei denn, du brauchst mich, du weißt
schon…
- Wunderbar! Ich habe nichts dagegen. Geh nur. Ich würde
auch mitkommen. Aber ich muss erst aus diesen Untiefen raus. Als ich
beim letzten Mal untergetaucht bin, bekam ich eine richtige
Gänsehaut. Igitt!
- Okay. Bis später.
- Bis später, Partner!
Er verließ das Nest.
Das Nest – eine Kapsel mit niedriger Schwerkraft, bestehend
aus etwa vierzig zumeist kleinen kugelförmigen Räumen, eine
Art Kommune aus (ausschließlich menschlichen) Aussteigern,
Neinsagern, T-Träumern, ausgeflippten Wohlstandskindern,
Eiferern und Fixern – befand sich mit vielen anderen
Wohneinheiten nahe an der Längsachse des Habitats, unweit des
(ziemlich willkürlich) so genannten Westends, nicht weit unter
dem Sonnenrohr. Offiziell gehörte das Nest der Mutter eines der
Wohlstandskinder, inoffiziell war es jedoch die Volksrepublik der
Unreifen und Unentschlossenen (und konnte das
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