Der Allesforscher: Roman (German Edition)
haben – und letztendlich auch ihre Karriere ruiniert. Heutzutage kannte kaum noch jemand ihren Namen. Sowenig wie den Namen des Komponisten, den sie entdeckt oder erfunden hatte.
Nun gut, allein diese Person kennenzulernen hätte als Grund für eine Reise genügt.
»Weiß Ihre Frau von Astri?« fragte ich.
»Um Gottes willen, nein!« rief Mercedes aus und fragte: »Werden Sie kommen?«
Ich sagte ihm, ich wolle es mir überlegen.
Er darauf: »Wir müssen feststellen, was Ihre Schwester vorhat.«
»Meine Güte, sie ist tot.«
»Mir kommt sie sehr lebendig vor«, sagte Mercedes. »Und im übrigen ist sie absolut talentiert.«
»Sie meinen im Messerwerfen?«
»Ja.«
Ich versprach, mich zu melden, sobald ich eine Entscheidung getroffen hatte.
Am Abend diskutierte ich die Sache mit Kerstin, die Einladung, nicht den Umstand, daß es um Astri und ihre »Lebendigkeit« in den Träumen des Herrn Mercedes ging.
Kerstin war sehr dafür, die Reise zu machen. Diesmal ohne Auto, uns auf die Bahn verlassend.
»Du nimmst dir ein paar Tage frei«, sagte sie, »und wir fahren schon Donnerstag und kommen Montag zurück.«
»Da müßte ich Simon für drei Tage von der Schule befreien lassen.«
»Na und? Davon wird die Schule nicht umkommen und der Simon auch nicht.«
Nun, eine Menge Schüler hätte das sofort doppelt und dreifach unterschrieben. Ich konnte mir sogar eine kleine Lüge ausdenken, ohne daß später die Gefahr bestand, daß Simon sich und mich verriet. Verstand ihn ja keiner.
Allerdings würde sich erst die nächste Woche ausgehen, einerseits wegen meines Dienstplans und andererseits, weil Simon vorher noch an einem Kletterwettbewerb teilnahm.
In welchem er sodann in einer Weise brillierte, die ohne Hysterie auskam, obgleich der Wettbewerb an sich voll von Hysterie war, angefangen beim Moderator, der unter Drogen schien und in sein Mikro brüllte, als wäre dieses sein größter Feind. Simon und Mick, sein Trainer, blieben hingegen ruhig und gelassen. Simon kletterte auf und davon. Und als man ihn interviewte, sagte er: »Gleifax – dr!« Alle nickten.
Wenige Tage nach Simons Triumph brachen wir zu unserer zweiten Reise nach Tirol auf. Wir hatten ein Abteil für uns, und ich war sehr froh, diesen Zug nicht selbst steuern zu müssen.
28
Kerstin saß mir und Simon gegenüber, hatte Kopfhörer in den Ohren und Musik im Kopf und beide Augen geschlossen. Offen hingegen war das Auge, das Simon soeben zeichnend zu Papier brachte. Der Junge versetzte mich immer wieder in Staunen. Ich sah ihm zu, wie er da mit feinem Strich ein neues Bild auf seinem Block entstehen ließ. Und zum zweiten Mal ein gegenständliches, auch wenn die anfängliche Schraffur etwas Abstraktes nahelegte. Aber im Detail war eben so gut wie alles abstrakt: das Deckblatt eines Käfers genauso wie der winzige Ausschnitt eines Computerbildschirms, der Seifenschaum genauso wie ein gedruckter Buchstabe. Ging man nahe genug an einen Buchstaben heran, blieb nur ein schwarzes Tableau von einiger Tiefenwirkung übrig – ein Abgrund.
Im Falle von Simons Zeichnung erwies sich die anfänglich so ungegenständliche Struktur als eine Anordnung von Federn. Federn, die zu einer Ente gehörten. Ja, das, was hier auf dem Blatt Papier nach und nach zu einer bestens vertrauten Kreatur anwuchs, war eine Stockente. Und ganz zum Schluß erhielt dieses im Profil dargestellte und gegen den Westen des Papiers ausgerichtete Tier eben ein Auge, ein offenes, sein linkes.
Nicht, daß Simon dabeigewesen war, als ich die Ente gerettet hatte. Er hatte dieses Tier nie gesehen, nicht vor und nicht nach dem Unfall. Allerdings hatte ich am Abend der Rettung Kerstin davon erzählt, und da war auch Simon dabeigewesen. Klar, er kannte diese Tiere aus der Schule und aus der Natur – dort, wo die Stadt Natur war. Das Wort »Ente« war ihm freilich noch nie über die Lippen gekommen. Die Zeichnung jedoch war so perfekt wie jene, die er oben am Astri-Berg geschaffen hatte.
Worauf ich nun wirklich keine Antwort geben konnte, war die Frage, ob es sich bei der von Simon so fein ausgearbeiteten Ente um eine bestimmte handelte. Diese Tiere sehen sich schon sehr ähnlich, sind lange nicht so unterschiedlich wie jene Verwandten, die in Entenhausen eine von Fortpflanzung und Alterung freie Existenz führen.
Das war übrigens mein erster Verdacht, daß Simon diese Ente nur darum gezeichnet hatte, um damit auf das Vorbild des von ihm so geliebten Donald Duck zu
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