Der Allesforscher: Roman (German Edition)
verweisen.
Andererseits …
Ich tippte auf den Rand der Zeichnung und fragte ihn: »Ist das etwa Einauge? «
Er hätte nicken oder den Kopf schütteln können. Tat er aber nicht, sondern setzte letzte kleine Punkte in das glänzende Auge des Erpels.
Ich überlegte, daß, obgleich man auf diesem Blatt Papier nur die linke Flanke und die linke Gesichtshälfte des Tiers erkennen konnte, dennoch auch die andere Seite existierte. So ist das nämlich immer bei der Kunst. Wenn wir von Goyas nackter Maja nur die Vorderseite sehen – ihre Scham, ihren Nabel, ihre Brüste, ihr Gesicht –, so bedeutet das nicht, sie würde keinen Rücken haben. Eine Maja ohne Rücken, das wäre ja völliger Unsinn, oder?
Und so war – ungesehen, aber doch – natürlich auch eine rechte Seite dieser Ente vorhanden. Und damit auch ein rechtes Auge. Eines, das entweder geschlossen oder offen war. Was ich niemals erfahren würde.
So wie es Schrödingers Katze gab, gab es eben auch Simons Ente .
Es war vereinbart worden, daß wir in St. Jodok den Zug verließen. Dort würde Mercedes auf uns warten und uns zu seinem Haus chauffieren.
»Was denkst du«, fragte Kerstin, »was unser Herr Mercedes für einen Wagen fährt?«
Ich lachte. Das war eine wahrlich nette Vorstellung, der Messerwerfer würde jenen besternten Wagen gleichen Namens fahren. Ein Mercedes in einem Mercedes.
Es war dann aber ein japanisches Auto, mit dem unser Gastgeber uns abholte. Er begrüßte Kerstin und Simon mit einer Umarmung, mir reichte er die Hand. Ich wunderte mich ein wenig über die Intimität zwischen ihm und Kerstin. Mir war nicht aufgefallen, daß sie oben am Astri-Berg viel miteinander geredet hätten. Na gut, der Mann war sechsundsiebzig, da durfte er auch Frauen umarmen, mit denen er noch nicht soviel geplaudert hatte.
Das Wetter war traumhaft wie damals, als wir das letzte Mal hier gewesen waren. Aber das Licht hatte sich ein klein wenig verändert. Man konnte ruhig sagen: Es war älter geworden. Nicht schwächer, aber milder, was ein Unterschied ist, schwächer wird man gegen seinen Willen, milder wird man absichtlich. Ein absichtsvoll mildes Licht.
Es gibt wenige sechs Kilometer auf der Welt, die so ruhig und sanft anmuten wie dieses Valsertal, ohne darum gleich Teil einer Wüste oder eines Ozeans zu sein. Ungefähr in der Mitte dieser Landschaft bogen wir rechts von der Hauptstraße ab und gelangten auf einer schmalen Zufahrt zu einem ehemaligen Gehöft, welches vor dem Hintergrund des aufsteigenden Waldes wie eine rechteckige Faust in der Erde steckte. Nein, es waren zwei Fäuste, weil ja der angrenzende Stall ebenso wuchtig und fast gleich groß wie das Hauptgebäude war. Eine dunkle Faust, der Stall, während das Wohnhaus einen hellen Anstrich besaß, mit kleinen, grün gerahmten Fenstern und über der Eingangstür eine Nische, in der eine bemalte Statuette stand.
»Die heilige Anna«, erklärte Mercedes, während er mir meine Tasche reichte. Offensichtlich hatte er meinen fragenden Blick bemerkt. Und ergänzte: »Jesus’ Oma.«
Das klang irgendwie despektierlich und entsprach dennoch vollkommen den Tatsachen. Wahrscheinlich war es der Begriff »Oma«, der mich irritierte, als wäre Jesus auch nur ein Lausbub mit einer stinknormalen Sippe gewesen.
Schon von hier draußen vernahm man die Musik, die drinnen gespielt wurde. Den Klang des Klaviers. Bach. Natürlich Bach. Ich hatte mich diesmal ein wenig vorbereitet. Im Unterschied zu unserem ersten Besuch in dieser Gegend, als mir Kerstin so viel hatte erklären müssen. Diesmal nicht. Ich wußte, wer da spielte, ich erkannte sogar, daß es sich weder um das Wohltemperierte Klavier noch um die Goldbergvariationen handelte, sondern um etwas anderes, anders, aber von Bach. Was ich freilich so nicht sagen konnte.
»Die Allemande aus der Partita Nr. 1 «, erklärte Mercedes, »Carla spielt diese Partita seit Wochen, nur das, rauf und runter. Daran muß man sich gewöhnen. Immerhin, sie spielt die sechs Stücke schöner als jeder andere. Außer Gould damals vielleicht.«
Kerstin zog ihre Stirn in leichte Falten. Klassische Musik war nicht ihr Thema. Für mich selbst war diese Musik eine typische Allesforschermusik. Bei ihm, über den Dächern von Köln, hatte ich derartiges gehört, eben nicht nur die drei Sonnen Schuberts, sondern auch Bach, Beethoven, selbst Schönberg und Webern. Nach dem Tod des Allesforschers war für mich auch diese Musik gestorben.
Die tote Musik drang nun aber
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