Der Allesforscher: Roman (German Edition)
und sah der Landschaft zu, wie sie stückweise – als drehte ein Spieler nach und nach seine Karten um – aus der Dunkelheit auftauchte. Es würde erneut ein herrlicher Spätsommertag werden.
Wir frühstückten im Freien, an dem großen hölzernen Tisch. Clara aber fehlte.
»Kommt Ihre Frau später?« fragte ich Mercedes.
»Sie hat bis in der Früh geübt.«
Erst jetzt kam mir die Vorstellung, wie Clara beim Verlassen des Klavierzimmers über mich gestolpert sein mußte. Wobei der Raum allerdings auch eine zweite Tür besaß. Ich konnte nur hoffen, daß sie durch diese gegangen war.
Mercedes sagte, daß seine Frau nie viel schlafe, und fügte an: »Sie ist wohl zeitig am Morgen losmarschiert. Das kommt hin und wieder vor, daß sie zu einer Wanderung aufbricht, ohne mir etwas zu sagen. In der Regel läuft sie hoch zur Hütte.«
»Herrje!« meinte ich. »Das ist ein langer Weg von hier.«
»Sie fährt mit dem ersten Bus bis ans Ende des Tals und marschiert dann hoch.«
Nun, das war genau die Strecke, die wir beim letzten Mal gegangen waren. Ich sagte: »Das ist immer noch ein langes Stück.«
»Clara ist zäh«, meinte Mercedes. »Lassen Sie sich von ihrer Kettenraucherei und den zittrigen Händen nicht täuschen. Ihre Ausdauer ist beachtlich. Nicht bloß, wenn sie Bach spielt.«
In der Folge unterhielt sich Mercedes nur noch mit Kerstin. Sie redeten viel über Malerei. Offensichtlich hatte sie keine Scheu gehabt, ihm von ihrer Leidenschaft und verhinderten Profession zu berichten. Mercedes erwies sich als Kenner englischer Nachkriegsmalerei: Lucian Freud, Francis Bacon, Ben Nicholson, Graham Sutherland, solche Sachen. Er redete darüber, als hätte er da überall mitgemalt.
Simon wiederum hatte sich in großer Eile mehrere Brote mit Schokoladecreme in den Mund geschoben und hatte auf mein »Du sollst nicht so stopfen!« mit einem »Quadrant!« geantwortet, womit aber kaum der Abschnitt einer Ebene gemeint sein konnte. Jedenfalls behielt er sein Eßtempo bei und war dann auch schnell verschwunden.
»Keine Sorge«, sagte Kerstin, die günstiger saß als ich. »Er ist zu seiner kleinen Freundin gegangen.«
»Ich sorge mich nicht«, sagte ich. »Ich will nur an seinen Tischmanieren etwas ändern.«
»In dem Alter ißt man halt so«, sagte sie, »weil das Essen einen nur abhält von den wichtigen Dingen. Das Essen ist ein Zeitfresser, wenn man neun Jahre alt ist.«
Nun, es muß gesagt werden, daß auch Kerstin beim Essen eher zum Schlingen neigte. Was mir gar nicht gefiel. Die Art, wie sie aß, machte sie in diesen Momenten häßlich. Nicht, daß sie schmatzte oder rülpste, so schlimm war es nicht. Aber man konnte den Eindruck bekommen, sie würde über das Verdauungssystem einer Schlange verfügen und wäre also in der Lage, ganze Krokodile hinunterzuschlucken. Wenn ich dagegen daran dachte, wie Lana gegessen hatte … wunderbar! Nicht etwa in der spatzenhaft pickenden Manier der Magersüchtigen oder Möchtegernmagersüchtigen, denn sie war ja weder das eine noch das andere gewesen, sondern so, daß jeder Bissen wie ein kleines Geschenk in ihren Mund wanderte. Und wenn sie kaute, dann in der Art, wie sie redete. Es war in beidem eine Überlegenheit gewesen.
Ich idealisierte sie, keine Frage.
Und hoffte inständig, daß Lana niemals in meinen Träumen erscheinen würde. Sie war in meiner Erinnerung so viel besser aufgehoben.
Nach dem Frühstück legte sich Kerstin mit einem Buch zwischen die langblühenden Rosen, so daß ich mit Mercedes allein war und ihn fragen konnte, was letzte Nacht geschehen war, ob ich in einem seiner Träume erschienen war.
»Ich habe Sie gesehen, das stimmt«, sagte Mercedes, »aber nur kurz und aus der Ferne. Sie waren wirklich weit weg. Ich glaube, Sie sind vor einem Kleiderschrank oder so gestanden. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Ein Symbol natürlich. Aber ein Symbol wofür? – Danach kam jedenfalls Ihre Schwester und hat wie üblich von mir verlangt, daß ich mit ihr trainiere. Sie wird immer besser, sie ist richtig gut. Kaltes Blut, präziser Wurf. Aber noch wichtiger ist, sie besitzt Intuition. Sie spürt, ob sich das Ziel bewegen wird oder nicht – und wenn, wohin. Sagen wir so: Ich möchte nicht ihr Feind sein.«
»Nun, Sie sind ihr Lehrer.«
»Das schließt kaum eine Feindschaft aus, oder?«
Das stimmte.
»Und Sie?« fragte mich Mercedes. »Was war in Ihren Träumen los?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Es gibt nichts, woran ich mich erinnern
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