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Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Titel: Der Allesforscher: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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meinte: »Ist es denn nicht so, daß nur die, die jung oder zumindest mittelalt sterben, durch die Träume der Lebenden wandern? Aber nicht die anderen, die schon alt genug sind, wenn der Tod sie ereilt. Das stimmt doch, oder?«
    Der Zehn-Millionen-Mann antwortete mit einer Stimme, die klang, als rede er in ein Wasserglas hinein. Er sagte: »So alt war ich gar nicht, als Sie mich umbrachten.«
    »Reden Sie keinen Quatsch«, wehrte ich mich. »Ich habe Sie nicht umgebracht. Seien Sie ehrlich, Sie wissen doch gar nicht genau, was damals geschah. Kein Toter erinnert sich so richtig, wie er starb. Nur ungefähr. Soviel habe ich schon mitbekommen. Sie brauchen nicht zu versuchen, mich anzuschwärzen.«
    »Ich weiß noch sehr gut«, erregte sich die Wasserglasstimme, »wie Sie mir die Rettungsweste heruntergerissen haben.«
    »Mag sein, aber davon sind Sie nicht gestorben.«
    Der Zehn-Millionen-Mann preßte die Lippen zusammen. Es war unverkennbar, wie absolut recht ich hatte. Der Mann besaß nur noch eine vage Erinnerung an das, was sich in der Boje zugetragen hatte. Zugleich sah ich seinen Haß, seinen unbedingten Willen, mich für seinen Tod verantwortlich zu machen. Das war der Grund, weshalb er noch hier war. Nichts war so sehr imstande wie der Haß – eins der stärksten Gefühle bei den Lebenden wie den Toten –, gewisse Gesetze oder Regeln außer Kraft zu setzen.
    Der tote Greis hätte sich längst von der Erde entfernen müssen. Aber er war noch immer hier. Er meinte, eine Rechnung offen zu haben.
    Ich sagte ihm: »Sie bilden sich das nur ein. Und gleich wie schlimm es für Sie auch sein mag, aber Sie haben umsonst so lange gewartet. Ihnen wird bei mir nicht die Gerechtigkeit widerfahren, die Sie sich erhofft haben. Auch wenn Sie sie vielleicht verdienen. Aber nicht hier, sondern woanders. Versprochen!«
    »Das werden wir schon noch sehen«, sagte er. Seine Stimme war jetzt sehr schwach, und seine Gestalt löste sich auf. Es war, als hätte ich eine gewisse Kontrolle über meinen Traum und damit auch über ihn. Das war mir neu. Der Zehn-Millionen-Mann konnte sich nicht halten. Er wurde durchsichtig, immer wäßriger und fiel zurück in den Schrank.
    Mein Gott, wenn das bei allen so funktionierte, die einen gerade nerven!
    Als ich erwachte, war bereits der Tag im Zimmer und erleuchtete die Stube. Ich sah Simons Gesicht und Kerstins Gesicht, beide noch im Schlaf, und dachte mir: »Was für Engel!«
    Draußen vorm Haus traf ich Mercedes. Er stand auf einem Stein, sah über das Land und inhalierte eine Zigarette. Aus seinem Mund drang der Rauch hell und sauber. Ich sagte: »Guten Morgen.«
    »Morgen, Herr Braun. Gut geschlafen?«
    Diesmal erzählte ich ihm von dem Taucher, der aus dem Schrank kam.
    »Aha«, meinte Mercedes, »ist das der gleiche Schrank, der auch in meinem gestrigen Traum war?«
    »Sehr gut möglich«, sagte ich.
    »Und wer ist der Taucher? Kennen Sie ihn?«
    »Jemand von früher.«
    »Aus Köln? Wie dieser Allesforscher, dem ich angeblich so ähnlich sehe?«
    »Nein, nicht aus Köln. Ich habe den Mann gewissermaßen auf dem Meer kennengelernt.«
    »Nun, das ist ungewöhnlich, aber wieder nicht so ungewöhnlich, wenn es sich um einen Taucher handelt.«
    Ich erklärte Mercedes, daß dieser Mann in meinem Traum annehme, ich sei sein Mörder.
    »Und sind Sie es?«
    »Natürlich nicht«, antwortete ich.
    »Er glaubt es aber.«
    »Er glaubt unbedingt daran. Es ist aber wie bei Astri. Er kann sich nicht wirklich an seinen Tod erinnern. Astri freilich gesteht sich das ein. Der alte Knabe nicht.«
    »Und wieso kommt er immer aus einem Schrank?« fragte Mercedes.
    »Ich denke, der Schrank ist so eine Art Portal. Oder vielleicht könnte man auch sagen: das Transportmittel des Tauchers durch die Träume der Lebenden. Sein spezielles U-Boot.«
    »Wenn ich uns zuhöre«, sagte Mercedes, »könnte man meinen, wir hätten den Verstand verloren.«
    »Die Idee kam mir auch schon. Doch am eigenen Verstand zu zweifeln löst nicht wirklich ein Problem. Außerdem zweifle ich eher am Verstand von diesem Taucher.«
    Nun, dies war ohnehin der übliche Weg: am Verstand von jemand anderem zu zweifeln.
    Es war nun Mercedes, der das Thema wechselte. Er sagte, er müsse mich bitten, den Rückweg ins Tal, hinunter nach Kasern, zurück zum geparkten Wagen, ohne ihn anzutreten. Er selbst wolle in den Bergen bleiben und sich weiter auf die Suche nach seiner Frau machen. Er erklärte mir: »Ich nehme an, Clara ist hinüber zum

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