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Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Titel: Der Allesforscher: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Möglichkeit, Mutter zu werden und dennoch weiter in die Berge zu gehen. Aber für Astri war dort, in der Mitte, kein Platz gewesen.
    Bezeichnenderweise hatte sie sich als ihre persönliche »Heiligenfigur« den österreichischen Arzt und Bergsteiger Emil Zsigmondy ausgesucht, der 1861 geboren wurde und ebenfalls sehr jung, nämlich vierundzwanzigjährig, in den französischen Alpen abgestürzt war. Vor allem aber fällt auf, daß Zsigmondy 1881 als erster die Südflanke jenes Berg begangen hatte, an dessen Nordkante Astri 2002 ums Leben gekommen war.
    Ich hatte derartige Leidenschaften nie begriffen, sich an unmenschliche Orte zu begeben, tief ins Meer, hoch in die Lüfte, in dunkle Höhlen, eisige Weiten. Worin besteht denn das Vergnügen, sich die Zehen abzufrieren? Klar, es geht um Überwindung, um die Beherrschung des eigenen Körpers, gerade dort, wo er nichts verloren hat. Weshalb man ja diesen Körper auf die Bedingungen zuschneidet. Astri hatte eine ungewöhnliche Kombination aus geringem Gewicht und ausgeprägten Muskeln entwickelt. Eine Kreuzung aus Eiskunstläuferin und Bodybuilderin. Wenn sie hundert Liegestütze machte, dann mit einer Leichtigkeit, als hänge sie an dienstbaren Fäden.
    Bei rascher Betrachtung mag es eigentümlich wirken, wie wenig uns der Umstand verband, daß ich ein Hürdensportler wurde und sie eine Kletterin. Kein Interesse am anderen, keine Konkurrenz, keine Bewunderung. Was ich tat, war eben bloß ein Sport, Astri hingegen praktizierte eine Religion. Sie kletterte gewissermaßen mit Gott gegen Gott, während ich selbst maximal gegen Gegner oder die Zeit lief. Zudem war in meinem Fall stets klar, daß ich, bei aller Liebe zu den Hürden, ihnen nicht mein ganzes Leben widmen würde. Astri hingegen war eine Nonne. Sie hatte ihren Körper und ihr Leben etwas Höherem versprochen. Klar, sie ging auch mal mit Jungs weg, ging mal ins Kino oder in die Disco, aber das war eher den Stunden geschuldet, die sie im Tal – Köln war einfach »das Tal« – verbringen mußte, um die Schule zu besuchen, später die Universität (sicher hätte sie lieber in Innsbruck studiert, aber das war nicht drin). Doch selbst im Tal befand sie sich die meiste Zeit in der Senkrechten oder mit dem Rücken zur Erde, einerseits in einer Kletterhalle, andererseits in einem Raum, den sie sich auf dem Dachboden der Großeltern selbst eingerichtet hatte. Ein Raum als Überhang, ein höchstpersönlicher künstlicher Felsen, auf dem sie wie auf der Unterseite eines Netzes lebte. Die Nonne als Spinne.
    Mir war immer klar gewesen, daß Astri in den Bergen sterben würde. Nur geschah es viel zu früh. Wobei die meisten Bergsteiger gerade fürchten, es könnte zu spät geschehen, es könne sie erst ereilen, wenn sie außerstande sind, die Felsen und Hänge aufzusuchen.
    Als Astri gestorben war, hatten meine Eltern aufgehört, sich als Eltern zu fühlen. Der Elternteil in ihnen war genauso erloschen wie ihr Kind. Sie hatten nur noch in einem bürokratischen Sinn weitergelebt, ihre Pflicht erfüllend: der Vater in der Fabrik bei seinen Kartonagen, der nun auch seine frühere Leidenschaft für die Malerei und die Literatur (seinen Thomas-Bernhard-Glauben) aufgab, die Mutter als Hausfrau und Privatfriseuse, ohne echte Liebe zum Haushalt und ohne echte Liebe zu den Frisuren (im Grunde war sie am ehesten dem Staub verbunden, gegen dessen Unsterblichkeit sie aufbegehrte), auch ohne echte Liebe für den kleinen Garten am Stadtrand, den sie nur noch so betreute, wie man jemanden an ein paar Schläuche hängt und seine Windeln wechselt. Aber niemals seine Wangen berührt oder mit ihm redet.
    Sie taten, als hätten sie ihr einziges Kind verloren.
    Zwischen ihnen und mir hatte nie eine Beziehung bestanden, die dieses Wort verdient hätte. Zu keiner Zeit. Ich war als Kind auch nur ein »Garten vor dem Haus« gewesen, den man an Schläuche hängt und dem man die Windeln wechselt. Keine Frage, ich war niemals vernachlässigt worden, in einem körperlichen Sinn. Ich war immer ordentlich gegossen worden. Meine Geschenke waren nicht kleiner gewesen, meine Kleidung nicht billiger. Aber ich hatte stets die Kälte empfunden, mit der Vater wie Mutter mich behandelten, ganz gleich, wie gut die Noten waren, die ich nach Hause brachte. Gleich, wie bemüht die Zeichnungen waren, die ich zu ihren Geburtstagen anfertigte. Wenn man sich freilich diese Zeichnungen ansah, erkannte man in ihnen die gleiche Kälte: sehr sauber, sehr brav, sehr

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