Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Richtung, in die Simon zeigte. Beziehungsweise auf die Konstruktion, welche jenseits des Zauns, der den Sportplatz abgrenzte, aufragte: ein Felsen. Ein mächtiger Felsen. Zudem ein künstlicher. Und auf diesem mächtigen, künstlichen Felsen viele bunte Elemente, als hätte der Felsen einen lustigen Hautausschlag. Wie Kinder ihn gestalten würden, könnten sie wenigstens das Aussehen von allergischen Reaktionen bestimmen.
Jedenfalls handelte es sich um einen Kletterfelsen, an dem eine Vielzahl von Personen sich daran versuchte, die Wände hochsteigend oder sich an den gesicherten Seilen herunterlassend.
Natürlich sah ich diesen farblich gepunkteten Kegel nicht zum ersten Mal, auch wenn ich mein Training eher in die Gegenrichtung absolvierte. Abgesehen davon, daß ich beim Hürdenlauf immer nur die Hürden wahrnahm und sicher nicht die sie umgebende Landschaft. Aber spätestens beim Zurücktraben …
Ich hatte einen Grund, diese markante Erhöhung unbeachtet zu lassen. Mein Verhältnis zu Bergen und erst recht zu deren Besteigung war ein gestörtes. Freilich nicht aus eigener Anschauung. Ich war niemals auf Felsen geklettert, gleich ob echt oder künstlich. Die Höhe war mir seit jeher ein Greuel, wobei es einen Unterschied machte, aus einem Flugzeug Tausende Meter hinunterzuschauen oder Hunderte von einem Berg senkrecht ins Tal. Oder auch nur zehn Meter. Meine Schwester hingegen …
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Richtig, über meine Schwester ist hier noch kein einziges Wort gefallen. Aber wie oft geschieht es überhaupt, daß die Leute von ihren Geschwistern reden? Von ihren Hunden, das schon, ihren Kindern, ihren Eltern, geliebt oder ungeliebt, ihren Feinden und Freunden, aber kaum ein Erwachsener erwähnt seine Geschwister. Wenn, dann wird wie über eine Nebensache gesprochen. Geschwister sind die Leute, die man zu Weihnachten trifft. Und wie oft ist Weihnachten?
Stimmt schon, so muß es nicht sein, aber meistens eben schon. Zudem war es in meinem Fall noch weit schwieriger. Ich sah meine Schwester, ich sah Astri, auch Weihnachten nicht mehr. Seit über einem Jahrzehnt lag sie auf einem Kölner Friedhof. Im Spätsommer 2002 , eineinhalb Jahre bevor ich meinen eigenen Unfall hatte und in einer defekten Boeing ins Ostchinesische Meer gestürzt war, war meine Schwester in den Tiroler Bergen ums Leben gekommen.
Sie verunglückte, als ein Blitz in den Felsen einschlug und sie hinauskatapultierte. Sie war an die hundert Meter gefallen, ohne auch nur einmal die Steilwand zu streifen, und schließlich auf dem Felssockel aufgeprallt. Als die Bergrettung sie einen Tag später barg, hatte eine Haube von Schnee ihren Körper bedeckt. Wie ein Sarkophag, hatte einer der Männer gemeint. Und tatsächlich dachte ich oft, wieviel besser es gewesen wäre, sie nahe dem Berg zu begraben, als sie hinunter ins Tal zu bringen, hinaus aus Österreich, hinein nach Deutschland, hinüber auf den Kölner Friedhof, wo weit und breit kein Berg war, bloß viele gebändigte Steine.
Übrigens war es Ende September gewesen und das Unwetter vollkommen überraschend gekommen, während es in meinem Fall durchaus angekündigt gewesen war. Aber in beiden Fällen hatte ein Gewitter seine dramatische Wirkung getan.
War das alles, was uns verband?
Jedenfalls nicht die Liebe der Eltern. Es war allein Astri gewesen, die diese Liebe auf sich gezogen hatte. Die des Vaters noch stärker als jene der Mutter. Zwei Jahre nach mir geboren, waren sich diesmal beide Elternteile über die Namensgebung einig gewesen. Sie wählten eine der finnischen Formen von Astrid: Astri. Denn unter den Ahnen beider Familien hatte es sowohl eine Astrid wie auch eine Astri gegeben, die beide über hundert Jahre alt geworden waren. Somit sollte die Wahl dieses Vornamens als ein gutes Omen wirken.
Später klagte meine Mutter, wie wahnsinnig es gewesen sei, das Schicksal auf diese Weise herauszufordern. Sie erkannte darin allen Ernstes eine Schuld. Sie sagte: »Als hätten wir ein Todesurteil unterschrieben.«
Astri wurde bloß zweiundzwanzig. Das ist, wie man so sagt, kein Alter zum Sterben. Wobei sie immerhin an jenem Ort umkam, der ihr der liebste gewesen war. Das war auch immer ihre Rede gewesen, lieber jung sterben zu wollen, dafür beim Klettern, als im Krankenhausbett oder sonstwie bewegungsunfähig ein hohes Alter zu erreichen. Oder auch nur Mutter zu werden und gleich der eigenen Mutter in die Fänge eines Haushalts zu geraten.
Klar, es gibt auch eine Mitte. Es gibt auch die
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