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Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Titel: Der Allesforscher: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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für Simon – einer Art Sprachbrücke – wurde natürlich durchaus gearbeitet. Von verschiedenen Seiten, von meiner, von Seiten der Lehrkräfte und auch von der einer Therapeutin, zu der ich Simon zweimal in der Woche brachte. Übrigens nun bereits als offizieller Adoptivvater, nachdem das Jugendamt das vorgeschriebene Eltern-Kind-Verhältnis festgestellt und das Familiengericht den besonderen Umstand, es hier mit einem alleinstehenden Antragsteller zu tun zu haben, in die auch insgesamt besonderen Umstände eingeordnet hatte. Die ganze Angelegenheit war ein Spezialfall. Wäre ich hingegen schön brav verheiratet gewesen, es hätte eigentlich kaum gepaßt. Nein, hier fügte sich ein Sonderfall in den anderen, und das deutsche Recht – das ja nicht das schlechteste ist, wenn man es ernst nimmt – hatte dafür eine komfortable Nische parat.
    Daneben bestand ein Zutrauen des Kindes zu mir, das ich mir gar nicht erst hatte verdienen müssen. Es war einfach vorhanden gewesen, von dem Moment an, als ich Simon in einem Raum der Münchner Taipeh-Vertretung die Hand gereicht hatte. Wobei mich niemals das Gefühl verließ, daß dieses »Gottvertrauen«, mit dem das Kind mich beschenkte, der Konsulatsangestellten Heinsberg zu verdanken war. Auf eine gewisse Weise hatte sie mich für Simon ausgesucht. Mitunter kam mir sogar der Gedanke, Heinsberg hätte in einer irren Weise etwas damit zu tun, daß mir viele Jahre zuvor ein toter Pottwal in die Quere gekommen war, der aber auf eine bakterielle Weise doch noch lebendig gewesen war und mich praktisch mit einem allerletzten Akt in ausgerechnet dieses Tainaner Krankenhaus befördert hatte.
    Es gibt keine Zufälle. Den Glauben an den Zufall hat die Aufklärung geschaffen, um die weißen Flecken auf der Landkarte des Lebens zu füllen.
    Klar, mit gescheiten Sprüchen allein war es nicht getan. Da war noch ein Alltag, von dem gerne gesagt wird, man müsse ihn bewältigen. Da war die Zubereitung des Frühstücks, da war der Beginn der Schule, meine Arbeitsstunden im Bad Berg, das Ende der Tagesbetreuung, die gemeinsamen Abende, die Gestaltung der Wochenenden, das Angeglotztwerden auf der Straße, die Frauen, die meinten, mir Ratschläge geben zu müssen, die Momente wiederum, da mir gute Ratschläge fehlten. Da waren meine lausigen Kochkünste, Simons Aversion gegen die Badewanne, das Vorlesen vorm Einschlafen (richtig, ich las Geschichten vor, und er betrachtete die Bilder und vernahm den Klang meiner Stimme, lachte, manchmal an passenden Stellen, manchmal an unpassenden), da war auch das Kranksein hin und wieder, Simons Launen, meine Launen, verdreckte Kloschüsseln, verschwundene Socken, Zahnarztbesuche … Wollte man den Alltag darstellen, er wäre ein von Ameisen geschaffenes Mosaik, unübersichtlich, abstrakt anmutend und am konkretesten im Fehlen einzelner Socken.
    Aber da war noch etwas.
    Der Hürdenlauf!
    Natürlich wies man mich darauf hin, es sei ein wenig früh, den Jungen für den Hürdenlauf begeistern zu wollen. Laufen allein sollte ja wohl reichen. Eine Hürde sei bedrohlich, ein Hindernis, gewissermaßen eine umgedrehte Grube: eine sichtbare Falle. Weshalb der Instinkt eigentlich gebiete, einen Bogen um den Balken zu machen, anstatt ihn überwinden zu wollen.
    Dennoch, ich war überzeugt, daß es besser war, dieses »besondere Kind« auch recht bald in eine besondere Form athletischer Raumbewältigung einzuweisen. Vor allem dachte ich, zumindest anfangs, daß das Wort »Hürde« sich bestens eigne, mit der deutschen Sprache zu beginnen.
    Ich wartete eine Weile, dann endlich fuhren wir mit der Straßenbahn hoch zur Waldau, eine im Stadtbezirk Degerloch untergebrachte Anlage aus mehreren Sportstätten, im schmalen Schatten jenes Stuttgarter Fernsehturms gelegen, der nicht nur als erster seiner Art gilt, sondern auch als der schönste: schlank und erhaben, ohne jene gewisse Blässe oder jenes massive Auftrumpfen, wie man es bei den meisten Kopien erlebt. Dieser Turm war vergleichbar all den Kinofilmen, die eine Reihe begründet hatten, etwa Rocky, Alien, Transformers, Jaws, und bei denen sich die meisten Zuschauer immer wieder nach dem Original sehnen. – Da hatten es die Stuttgarter gut, da sie von vielen Punkten der Stadt aus auf diesen hochgelegenen Urturm sehen und darüber so manches verdrängen konnten, was in ihrer Stadt geschah und geschehen war. So wie man zu einem Kruzifix hochschaut und ob der Würde des Gekreuzigten das Elend einer ganzen Kirche

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